Heraus zum 1. Mai Tai / On the Street.

ACAB: Opa erzählt vom Krieg (autofiktionale Erinnerung) © Kai von Kröcher, 1997

 

Ich bin einfach zu klein. Ich komme hier nicht weg.

 

Überschrift inspired by: Mai Tai – Cocktail mit J. Wray & Nephew-Rum, pipapo © Tahiti, ca. 1934 – 1944

Überschrift also inspired by: On the Street © Clara Luzia, 2017 

Bildunterschrift inspired by: Sympathy for the Devil © The Rolling Stones, 1968

Textauszug aus: Hast du uns endlich gefunden (autofiktionale Lebenserinnerung) © Edgar Selge, 2021

Jaws / Auf den Schwingen des Todes.

Memory of a Free Festival (signiert) © Otto Glunz, 2023

 

I’m just a gift to the women of this world. +++ Heißen hätte es gestern müssen: Drüben in Amiland, wie ich gerne zu sagen pflege. Drüben in Amiland wird Midazolam zur Vollstreckung der Todesstrafe gespritzt, nicht etwa einfach nur begleitend zur Beruhigung der Nerven – man injiziert es als das totbringende Gift himself. +++ Verstehen Sie? +++ Wie gesagt, hatten wir uns über das Internet kennengelernt. Dieses Momentum des unbestreitbaren Leidensdrucks hatte ich nutzen wollen, eine Entscheidung treffen zu müssen wie ein Mann – den roten Atomknopf drücken, es gibt kein Zurück. +++ Zeitgleich mit der – wie nennt man das in der Arztpraxis: die Frau, die da sitzt, wo man sich anmeldet? Mit der zusammen kam ich früh morgens vor der Praxistür an. Und einer Arzthelferin, pünktlich wie der sprichwörtliche Maurer. Viel später erst traf der Zahnarzt ein, er legte der Empfangsfrau wortlos etwas auf ihren Tresen. Eine Tüte mit Äpfeln? Beim FC Bayern würde man sagen, er habe „die Kabine verloren“. +++ Meiner Meinung nach jedenfalls hatte Wolodomyr, der Zahnarzt, der an Pál Dárdai erinnerte, im Vergleich „zu dem Ungarn“ allerdings kein Freund freundlicher Worte zu sein schien. Rein vom Feeling her hatte Wolodomyr den Empfangstresen verloren: Die quirlige Frau mit der Frisur vorn an der Anmeldung ließ ihren Chef spüren, wer hier der Chef war. Ich saß hinten im Zahnarztstuhl und wartete auf meine orale Dosis Midazolam, sie drehte vorne den Radiosender 94,3 rs2 auf. Ein gutgelaunter Moderator, der alle duzte, wollte von seinen Hörerinnen wissen, wie viele Paar Schuhe sie zu Hause im Schrank haben. Eine Frau aus Marxwalde rief an, die besaß nur ein einziges Paar. Und fand es super, nicht noch mehr Schuhe zu haben – der Moderator fand das crazy. Stoisch wartete ich auf mein Midazolam, in Insider-Kreisen „Egal-Pille“ genannt…

 

Überschrift inspired by: Der Weiße Hai (Jaws, Thriller) © Steven Spielberg, USA 1975

Überschrift also inspired by: Auf den Schwingen des Todes (A Prayer for the Dying, mit Mickey Rourke) © Mike Hodges (Regie), USA 1987

Bildunterschrift inspired by: Memory of a Free Festival © David Bowie, 1969

Lyrics: A Gift © Lou Reed, 1976

Midazolam: Arzneistoff aus der Gruppe der kurzwirksamen Benzodiazepine mit angstlösender und entspannender Wirkung

Es gibt kein Zurück © Thimo Sander, 2019

Pál Dárdai (* 16. März 1976 in Pécs), ungarischer Fußballspieler, seit vergangener Woche zum dritten Mal Trainer von Hertha BSC

94,3 rs2: Berliner Privatsender, 1992 hervorgegangen aus dem West-Berliner RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor)

Neuhardenberg (bis 1814 Quilitz, 1949–1990 Marxwalde), Gemeinde im Landkreis Märkisch-Oderland / Brandenburg

Зубы / Midazolam.

Großstadtidyll: Frühling in Berlin © Otto Glunz, 2023

 

Yeah, Mama, this surely is a dream. +++ Wir hatten uns im Internet kennengelernt, macht heutzutage fast jeder – als der Blitz in der Zahnwurzel eingeschlagen hatte, seinerzeit: „Angstpatienten“ gegoogelt und umgehend den ersten Termin klargemacht. Dreißig Jahre zuvor, als ich das letzte Mal einen Zahnarzt aufgesucht hatte, hatte es diese Art der – ja, was eigentlich? Diesen weltweiten Verbund von Rechnernetzwerken, der autonomen Systeme, noch gar nicht gegeben. Und dreißig Jahre lang hatte ich seitdem insgeheim immer gewusst, eines Tages würde der Tag kommen. +++ Nun gut. +++ Seit 2014 spritzen sie Midazolam in den USA übrigens bei der Vollstreckung der Todesstrafe. Da der Gevatter dann aber nach bis zu zwei Stunden erst einsetzt, ist das Mittel verständlicherweise umstritten. Und dennoch wahrscheinlich ein gar nicht mal unangenehmes Dahinscheiden. +++ Hier auf dem Zahnarztstuhl jedenfalls hatten sie mir das Präparat auf eigenen Wunsch (nämlich auf meinen) in Tablettenform eingeführt, und daher vergleichsweise leidenschaftslos ließ ich mir an einem einzigen Vormittag fünfzehn Spritzen in Gaumen und Kiefer stechen, mir vier Zähne ziehen, davon 2x Weisheit, drei weitere „Zoobies“ aufbohren und deren Wurzelkanäle ausschaben. +++ Okay. +++ Apropos ‚Jaws‘ (Kiefer): Neulich, durch Zufall, fand ich heraus, der Hai ist ein Fisch! Das war immer so ’n Running Gag gewesen zwischen Otto und mir: Haha, die Fledermaus ist ein Vogel, der Flughund ein Hund, der Walfisch ein Fisch. Genau wie der Hai – haben wir uns vielleicht auf die Schenkel geklopft vor intellektueller Überlegenheit! Und jetzt schlich ich kleinlaut, doch voller Demut. Kroch ich zu meinem Sohn und musste mich korrigieren – der Haifisch sei nun also doch gar kein Säugetier. Das hatte ich wirklich immer geglaubt. Und jetzt, wie dieser Vater in Dirty Dancing da damals immer zu sagen pflegte: „Wenn ich einen Fehler gemacht habe“, und so weiter – ich weiß es nicht mehr…

 

Überschrift inspired by: Зубы (russisch: Zähne)

Überschrift also inspired by: Zoobies (sprich „Zuhbies“, von russ. Зубы = Zähne) aus: Uhrwerk Orange (A Clockwork Orange, Roman) © Anthony Burgess, 1962

Lyrics: Sex and Candy © Marcy Playground, 1997

Midazolam: Arzneistoff aus der Gruppe der kurzwirksamen Benzodiazepine mit angstlösender und entspannender Wirkung

Der Weiße Hai (Jaws, Thriller) © Steven Spielberg (Regie), USA 1975

Dirty Dancing (Tanzfilm mit Patrick Swayze, Jennifer Grey und Jerry Orbach als Jake Houseman) © John Morris (Filmmusik), USA 1987

Drahtzieher und Eisenbieger / Schaltzentrale der Ohnmacht.

Staatsakt: Charles III. formally known as Prinz Charles besucht den Wochenmarkt am Wittenbergplatz (Handyfoto) © Kai von Kröcher, 2023

 

Die großen Entfernungen machen uns traurig und bitter, und dann ist es auch schon wieder Zeit zu gehen. +++ Alles fing an mit einem Allgäuer Spätzle-Rezept, das mein Sohn Otto und ich aus unserem Alpenurlaub bei meiner Nichte mitgebracht hatten und jetzt endlich gemeinsam zu Hause nachkochten. Der Zahn hatte vorher schon Ärger gemacht, wie man so sagt – nur, dass ich mir ausgerechnet bei diesem köstlichen Essen eine elende Plombe herausbrach. Futter für meinen langersehnten Zahnarztroman, wie es scheint. +++ Das sollte nun also mein zweiter Zahnartztbesuch innerhalb weniger Wochen werden, nach immerhin 30 (in Worten: dreißig) Jahren hartnäckiger Abstinenz! Als moralischer Beistand begleitete Otto mich in die Praxis nach Schöneberg. Ein herrlicher Morgen, und wirklich panisch war ich gar nicht mal so. +++ Um die Sache hier abzukürzen: Ausgeliefert saß ich im Zahnarztstuhl, machte den Mund auf. Ich bin mir nicht sicher, ob andere sogenannte Zahnklempner ihre Kundschaft liebevoll in den Arm nehmen, das könnte eine romantische Illusion sein. „Der muss raus“, meinte er jedenfalls recht pragmatisch mit leicht sprödem Charme. ‚Unglücklicherweise‘ schlucke ich jeden Tag aber Blutgerinnungshemmer, und so musste die ganze Sache nun doch leider verschoben werden. +++ 😉  +++ Und jetzt kommt die unerwartete Wendung. +++ Ferngesteuert und gutgelaunt spazierten wir in die Lebensmittelabteilung des KaDeWe, seit etwa den Nullerjahren bin ich da nicht mehr gewesen. Besonders bestaunten wir den Red Snapper, der schien direkt aus Der Schwarm entkommen zu sein. Anschließend fuhren wir hoch ins Dachgeschoss, setzten uns an das Panoramafenster und holten im Sonnenschein unser Frühstück nach. Doch was machten die Sicherheitsbeamten draußen überall auf den Dächern? Plötzlich bog eine Polizeieskorte ein – und mittendrin ein Rolls Royce mit britischer Hoheitsflagge auf dem Dach. Der ganze Konvoi stoppte tatsächlich am Wittenbergplatz, wir konnten alles von oben beobachten. +++ Da unten in einer Frauenarztpraxis hatte ich seinerzeit das erste Ultraschallbild meines Sohnes gesehen – groß wie ein Böhnchen mit Fingerchen dran! Ob Camilla auf einmal schwanger geworden war? +++ Spaß muss sein. +++ In der Tagesschau abends sah man die Designierten dann an einem Biostand Käsehäppchen probieren. +++ „Und damit“, wie ich am Schluss eines jeden Vorlesens zu meinem Sohn gerne sage: „… ist die Geschichte zu Ende!“

 

Überschrift inspired by: Drahtzieher und Eisenbieger © Kai von Kröcher, 2023

Überschrift also inspired by: Schaltzentrale der Ohnmacht © Kai von Kröcher, 2023

Lyrics: Leichtes Spiel © Otto von Bismarck, 2022

Der Schwarm (Miniserie nach dem Roman von Frank Schätzig) © ZDF, D/F/I/JPN/AUT/SWE/CH

Charles III von England – Krönung am 6. Mai in der Westminster Abbey

Camilla, Queen Consort (* 17. Juli 1947 als Camilla Rosemary Shand in London; geschiedene Camilla Parker Bowles), Ehefrau Prinz Charles des Dritten

Lixiana (mit dem Wirkstoff Edoxaban), Arzneistoff der Klasse der Antikoagulanzien – Blutgerinnungshemmer der jüngsten Generation

Knofo / Music in Colors.

Ungültig ab: 2. April 1993 © Berliner Verkehrsbetriebe/Kai von Kröcher (Repro), 1992/93

 

Ein Tag, an dem ich mich frage, ob aus dem Jungen von damals dieser Mann werden musste, der zu früh aufwacht und überlegt, ob er sein Leben noch richtig lebt. +++ Die Monatskarte lag schon ewig im Küchenfenster herum, gestern fiel mein Blick auf das Datum. +++ Man nennt das wohl einen geschürzten Mund – heutzutage auch Duckface genannt, seinerzeit Pflicht. +++ Dazu passt gut eine Geschichte, die war mir vorletzte Nacht zufällig wieder eingefallen, als ich urplötzlich hellwach im Bett lag. +++ „Den Norbert Kröcher, den hab‘ ich gekannt – wir nannten ihn immer nur ‚Knofo‘!“ Ende ’93, ich hatte gerade meine allererste vernünftige Wohnung bezogen, hier am Kanal. Nicht mehr die alte Kaninchenbehausung aus den Betonsechzigerjahren oben im Wedding, wie auf der Monatskarte damals noch ausgepreist. Und die ersten Worte des Hausmeisters waren nicht etwa „Sie sind der Neue“ gewesen oder so andere gängige Hausmeister-Classics. Er hatte den Norbert Kröcher gekannt und bewohnte die Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss unten rechts. Über dem Briefschlitz in seiner Tür stand mit Edding geschrieben: „Hier taz!“ – mit resolutem Pfeil auf den Schlitz zeigend. Er war, Herr Schumacher, damals schon eine Spur älter, Prototyp Alt-Achtundsechziger, Catweazle-Haarschnitt. Einmal, spät in den Neunzigern, sah ich ihn hinter einem Wahl-Werbestand der Grünen zusammen mit Ströbele stehen, das erfüllte mich heimlich mit Stolz.

 

Überschrift inspired by: Norbert Erich Kröcher, Spitzname Knofo (* 14. Juli 1950 in Berlin; † 16. September 2016 ebenda), Mitglied der terroristischen ‚Bewegung 2. Juni‘

Überschrift also inspired by: Music in Colors © Stephen Duffy feat. Nigel Kennedy, 1993

Textauszug aus: Der große Sommer (Roman) © Ewald Arenz, 2021

Gabriele Kröcher-Tiedemann (* 18. Mai 1951 in Ziegendorf, Mecklenburg; † 7. Oktober 1995), dt. Terroristin aus dem Umfeld der Berliner Hasch-Rebellen, Ehefrau

Catweazle: Fernsehserie nach Romanen von Richard Carpenter © London Weekend Television, GB 1970 – 1971 (dt. Erstausstrahlung: 28. April 1974)

Hans-Christian Ströbele (* 7. Juni 1939 in Halle an der Saale; † 29. August 2022 in Berlin), dt. Rechtsanwalt und Politiker der Grünen

Eulerstraße – benannt nach dem ‚Gott der Mathematik‘, Leonhard Euler, 10555 Berlin-Wedding (Gesundbrunnen)

Das Mädchen, das seinen Namen verloren hatte / Sell Me A Coat With Buttons of Silver.

Wanted: Lieblingsjacke © Kai von Kröcher, 2023 (Repro/Handyfoto)

 

In coats of many colour reptile man drop. +++ Die Geschichte mit der elenden Zahnwurzel ging (oder geht) natürlich noch weiter. Aber vielleicht mache ich wirklich ein Buch daraus, einen weltumspannenden Bestseller. +++ „Vielleicht hat noch nie ein Spiel gewonnen“, wie diese haushohe Fassadenwerbung mit Mario Götze am Savignyplatz uns da einreden will, man muss sie überhaupt erst einmal begreifen. +++ Dieser Reiserückruf da auf dem Foto (oben) bleibt mir jedesmal im Augenwinkel hängen, wenn ich vom Einkaufen komme. Gestern hatte ich zehn Liter Blumenerde unter dem Arm, das Leben geht weiter. Vielleicht hat ja jemand von Ihnen die Jacke gefunden – ansonsten ein großartiger Steckbrief. +++ Den ersten Urlaub meines Lebens im Ausland seinerzeit verbrachte ich mit meinen Eltern in Holland. Sagt man ja eigentlich nicht. Direkt nach der WM ’74, dem Endspiel von München. Die Niederländer empfand ich als kleiner Piefke als äußerst entspannt und hilfsbereit, in Den Haag waren wir auch. +++ In einem Leserbrief an den Tagesspiegel gestern hatte jemand verärgert gefragt, ob denn die sogenannte Unschuldsvermutung im Falle des russischen Präsidenten etwa nicht gelte: 16.000 verschleppte Kinder, die von betrunkenen Kolchosbauern jetzt irgendwo in der Taiga zu fröhlichen Jungpionieren herangezogen werden – vielleicht muss man selber ein Kind haben, um diese Vorstellung unerträglich zu finden.

 

Überschrift inspired by: Das Mädchen, das seinen Namen verloren hatte (Kurzgeschichte für Kinder) © Annie M.G. Schmidt, 1968

Überschrift also inspired by: Sell Me A Coat © David Bowie, 1967

Lyrics: Love Song © Simple Minds, 1981

Den Stier bei der Wurzel gepackt / Was Sie immer schon über Midazolam – aber auch heute hier wieder nicht …

„Und, was fotografieren Sie so – schöne Häuser?!“ (Estrel, Berlin-Neukölln) © Kai von Kröcher, 2023

 

Alles fing an mit der Gitarre meines Vaters und Sarah, der keuschen, afrodeutschen Aphrodite, die ich liebte damals. +++ Genau genommen fing alles an mit einer Kugel Eis: Mein Sohn hatte mich in die Marheineke-Markthalle gelotst, das war vorletzte Woche, wir saßen auf einem ausrangierten Ledersofa beim leerstehenden Italiener im ersten Stock. Otto schleckte an dunkler Schokolade, ich hatte mich hipsteresque für gesalzenes Caramel entschieden. Als plötzlich ein blitzartiger Schmerz in der Zahnwurzel einschlug und mir augenblicklich Teilbereiche des mittleren Vorderhirns schockfrostete. +++ Ich kann mich, das muss so Ende der Sechzigerjahre gewesen sein. Da kann ich mich jedenfalls dran erinnern, ich war unangenehm zerfressen von Neid auf meinen innigsten Sandkastenfreund. Der kam mit seinen Eltern damals vom Zahnarzt, und der wiederum hatte gebohrt. Etwas derart unerhört Cooles hatte er bei mir bis dahin noch nicht gemacht. +++ Das sollte sich allerdings alsbald ändern – die frühen Siebzigerjahre, das nämlich waren nicht nur verklärte Pril-Blumen und Brauner Bär. Haben Sie auch gelesen, Wrigley’s Spearmint Gum stellt seine Produktion in Deutschland ein? Die Siebziger jedenfalls, die waren für mich auch der Zahnarzt in unserem Nachbardorf. Ich habe den immer so als Peter-Frankenfeld-Typ in schlechter Erinnerung, aber eingebrannt haben sich wohl eher der Praxisgeruch, wenn man hereinkam, das Kreischen der Bohrer aus dem Behandlungsraum. +++ Termine und/oder Gefangene wurden hier nicht gemacht, und so saß man durchschnittlich dann vom Feeling her zwei bis drei Stunden mit zwei Dutzend anderen und starrte auf den gerahmten Kalenderspruch an der Wand: „Schenke Blumen während des Lebens, denn auf den Gräbern sind sie vergebens / Ein bisschen mehr ‚wir‘ und weniger ‚ich‘, ein bisschen mehr Mut – nicht so zimperlich“. Das las man sich paralysiert dann so vierhundert Mal durch und hoffte derweil auf einen Meteoriteneinschlag im Transformatorenhaus. +++ Es gab hier ein unumstößliches Gesetz: Gebohrt wurde grundsätzlich ohne Betäubung – Spritzen nur bei den Erwachsenen, wenn zweite Zähne gezogen wurden. +++ Als ich ins Jugendlichen-Alter kam, musste ich immer allein mit dem Fahrrad die zwei Kilometer Steigung – wir brechen an dieser Stelle für heute hier ab, das dauert mir alles zu lange. +++ Wie schätzen Sie die Chancen am Markt für einen juvenilen Zahnarztphobie-Roman ein – sollte ich den bei dem Wetter da draußen schnell noch schreiben?

 

Überschrift inspired by: Roots (Mini-Fernsehserie nach dem Roman von Alex Haley) © Marvin J. Chomsky, David Greene, John Erman, Gilbert Moses (Regie), USA 1977

Überschrift also inspired by: Dormicum (Midazolam) – Sedativum in der Anästhesie zur Prämedikation vor Operationen

Lyrics: Erste Schritte / Retrospektive © Freundeskreis, 1999

Peter Frankenfeld (* 31. Mai 1913 in Berlin-Kreuzberg; † 4. Januar 1979 in Hamburg), dt. Showmaster und Schauspieler (Entertainer)

Kalenderspruch vermutlich inspired by: Ein bisschen mehr Friede(n) des österreichischen Schriftstellers Peter Rosegger (1843 – 1918)

Zur Schildkröte / I’m sorry Ms. Jackson.

Fiktives Vinyl: Die Kränkung – Einblutungen an den Rändern © Kai von Kröcher, 2014/2022

 

J’avais dessiné sur le sable son doux visage. +++ Kurz nach dem Mauerfall war ich mit meinem Kumpel abends, dem Russen, drüben in Ost-Berlin. +++ Was ich an dem Bild mit dem Boot („Cindy Incidentswert“/Anm.d.Red.) neulich so faszinierend fand, das fiel mir viel später erst wirklich auf. Diese Diskrepanz zwischen Fassade und Wirklichkeit. Diese Ein- bzw. Zweidimensionalität der sandigen Theaterkulisse – dahinter verborgen die endlose Weite der offenen See. +++ Wer früher Schallplatten gesammelt hat, oder anders gesagt: Welcher Idiot von Schallplattenverkäufer hat denn da oben diesen Nice-Price-Aufkleber voll über die Straßenlaterne geklebt?! +++ Und wer damals, an diesen diesigen Novemberabenden im Jahre ’89 in Ost-Berlin. Wer damals nicht dabei gewesen ist: Wenn man sich einfach so spontan auf den Weg gemacht hat, von, sagen wir mal Charlottenburg, Moabit oder meinetwegen auch Kreuzberg oder dem Wedding. Man hatte ja keine Ahnung. Prenzlauer Berg gab es in unserer Wahrnehmung damals noch nicht. Jedenfalls, der Russe und ich kreuzten quer durch den Abend, unser Ehrgeiz ging auf eine authentische Molle. Der Osten hatte ein anderes Licht als der Westen, über dem Kopfsteinpflaster hing pittoresker Zweitakter-Dunst. Eine Molle zu finden war für den Außenstehenden auf Anhieb gar nicht so einfach. An einer dunklen, breiten Magistrale aber wurden wir ins Innere einer Kneipe gespült, die trug den geheimnisvollen Namen Schildkröte. Holzfässer waren als Stehtische aufgebaut, die Erinnerung verschwimmt leider bedenklich. +++ Gestern, hier in Berlin, hatten wir recht unwirtlichen Schneeregen, zwischenzeitlich sah es ein bisschen so aus wie einstmals im Havelland (oben). +++ In den Nachwendejahren haben der Russe und ich häufiger solche Touren durch die Hauptstadt der DDR damals gemacht. Einmal, da hatte im Kreml wahrscheinlich schon Jelzin das Ruder übernommen. Da saßen wir in einer Bar an einem großen Fenster zur Straße. Jahre später konnte ich diesen Ort durch Zufall nach Pankow verordnen, wie man gerne so sagt. Der Russe hatte verwegene Pläne: In dieser Kneipe am Fenster in Pankow schlug er mir vor, ich weiß das wortwörtlich noch heute. Er meinte, ich sei doch so’n stoischer Typ, ich hätte ein dickes Fell. Was ich übrigens für eine komplette Fehleinschätzung halte, aber egal. Ob ich zusammen mit ihm nicht eine McDonald’s-Filiale in Moskau oder St. Petersburg aufmachen will. +++ Womit wir endlich beim Thema sind.

 

Überschrift inspired by: Zur Schildkröte | HO-Gaststätte | Schönhauser Allee | Berlin – Hauptstadt der DDR

Überschrift also inspired by: I’m Sorry Ms. Jackson © Outcast, 2000

Lyrics: Aline © Christophe, 1965

Boris Jelzin (* 1. Februar 1931 in Butka, Ural-Oblast; † 23. April 2007 in Moskau), 1991 – 1999 der erste Präsident und das erste frei gewählte Staatsoberhaupt Russlands überhaupt 

вкусно и точка – sowjetische McDonald’s-Kopie (Est. 2022)

вкусно и точка / Sylvia’s Mother said.

Fiktives Vinyl: вкусно и точка – Der Maschinentod (präsentiert von Россия 1) © Kai von Kröcher, 2011/2022

 

Weil du dir meistens nicht gefällst und du tanzt wie ein Pferd. +++ Heute vor einem Jahr überfiel, Sie wissen es, überfiel Annalena Baerbock aus Hannover die friedliebende Sowjetunion – war es das wert? +++ Was man denn auf dem Bild mit dem Boot neulich sieht, wurde ich in einem Leserbrief gestern gefragt („Cindy Incidentswert“/Anm.d.Red.) – das ist natürlich eine herausfordernde Frage! Auf den ersten Blick fühlt man sich in eine Theaterlandschaft versetzt: vorne ein bisschen Sand, darin ein verlassenes Boot. In die Kulisse gepinselt ein bleigrauer Himmel ohne jegliche Dramaturgie, aus wenigen Strichen ein trostloses Gestrüpp, aus der Zeit gefallen dazu eine Straßenlaterne. +++ Sie kennen meine Einstellung zur weltgrößten Fast-Food-Kette McDonald’s, die Hamburger bei вкусно и точка jedenfalls sollen nicht schlechter sein – nur an seiner Cola müsse ‚der Russe‘ noch arbeiten, heißt es. +++ Am Sonntag im club49 nun endlich der Zappa-Abend mit Carsten Klindt plus one, letztens noch einem Virus zum Opfer gefallen. +++ Ob man ein Bild erklären kann oder muss – das hat ja immer auch viel mit intuitiver Assoziation zu tun. Hinter jenen unspektakulären Büschen, das weiß in diesem Fall nur der Künstler – hinter den Büschen liegt der Herr der Gezeiten himself und hat, wie sein Name verrät, alle Zeit der Welt: die Ostsee. Einstmals lebensgefährliches Schlupfloch in den verheißungsreichen Westen, heute ein beinahe prosaisches Wasser. +++ Alles gerät mir heute hölzern und schwer. +++ Das heutige Plattencover dagegen (oben) ist ziemlich scheiße geworden und zeigt eine Filiale des Fast-Food-Riesen McDonald’s im damals schon früheren Ost-Berlin.

 

Überschrift inspired by: вкусно и точка = sowjetische McDonald’s-Kopie (established 2022)

Überschrift also inspired by: Sylvia’s Mother © Dr. Hook & the Medicine Show, 1971

Lyrics: Alles Gute © Faber, 2015

The Prince of Tides (Drama mit Nick Nolte und Barbra Streisand) © Barbra Streisand (Regie), USA 1991

Ende der Halbwertszeit / Die Nichte von van Nistelrooy.

Fiktives Vinyl: Cindy Incidentswert – Gefahren des Ruhms © Kai von Kröcher, 2014/2022

 

I had so many breakthroughs but you, my love, were kind. +++ Auf dem Spaziergang zum Einkaufen neulich kam mir morgens eine gemischte Group Pubertierender entgegen. Ein großer Pausbäckiger gockelte vorne heraus: „Das ist die Nichte von van Nistelrooy!“ – ein Abgehängter hinten reckte den Hals: „Von wem?!“ +++ Wie Sie bemerkt haben werden, bin ich gerade dabei, manchem meiner fiktiven Plattencover – dieser fotografischen Serie, die mein vielleicht wichtigster Durchbruch werden soll. Da habe ich teilweise noch einmal Hand angelegt, der Sache einen nicht unerheblichen Feinschliff verpasst: Eines meiner absolut liebsten Motive übrigens (oben) – ich könnte Ihnen gar nicht beschreiben, was dieses Bild alles erzählt. +++ Mein Sohn hatte sich letztens gewünscht, den nächsten Tag mal mit der S7 nach Potsdam zu fahren. Es schüttete in Strömen, aber Potsdam gefiel uns beiden ganz gut – wir flanierten durchs Nauener Tor und gönnten uns Zuflucht in einem Japanischen Restaurant. +++ Der anerkennend „tschetschenischer Bluthund“ genannte Ramsan Kadyrow will die ehemalige DDR ja zeitnah der Sowjetunion rückübertragen, und sein Vorschlag erfüllt mich, ehrlich gesagt, wie sagt man – mit Wehmut. +++ Das Foto (oben) hatte ich damals im damals schon ehemaligen Bezirk Rostock aufgenommen, und ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, was dieses Bild alles erzählt. +++ Aber lustig: Der Bandname („Cindy Incidentswert“/Anm.d.Red.) ist mittlerweile schon derart antiquiert, da werden die jungen Leute bald nichts mehr mit anfangen können.

 

Überschrift: Ende der Halbwertszeit © Kai von Kröcher, 2023

Überschrift also inspired by: Ruud van Nistelrooy (* 1. Juli 1976 in Oss, Provinz Nordbrabant), niederl. Fußballprofi und Trainer

Lyrics: Time © David Bowie, 1973

Cindy Incidentally © Faces, 1973

Hako Ramen | Brandenburger Str. 47 | 14467 Potsdam