Up the Hill Backwards / The Greenhouse Effect.

Oktapolare Fotografie: Baad, Vorarlberg* – Porträt eines Berliner Jungen in den Bergen  © Kai von Kröcher, 2024

 

Die See ist schwer gereizt an diesem Winternachmittag, der Himmel wie mit altem Holz vernagelt. +++ Wie Sie wissen, hielt ich mich Mitte Juni bei meiner Nichte im österreichischen Teil des Allgäus auf. Dieses Alpenpanorama oben zum Beispiel, bestehend aus 110 Einzelaufnahmen, ist bei einer Auflösung von 300 dpi zwei Meter siebzig breit und achtzig Zentimeter hoch. Das interessiert, denke ich, den Leser allenfalls peripher, doch meinen in die Jahre gekommenen „Rechner“ zwang es nahezu in die Knie. +++ Ja, der oder das Laptop rechnete sich oftmals den sprichwörtlichen Wolf und brauchte etwa acht Stunden für das fervackte Bild, allein immer zum Zwischenspeichern. Man sollte das Foto aufblasen zu einem gigantischen Wandfries – über der Suhler Jagdhütte vielleicht, Fassade am Haus der Statistik. Während des zähneknirschenden Wartens irgendwann schoss mir aus vollkommen heiterem Himmel eine Geschichte von früher in den Sinn. Tauchte einfach so auf vor dem geistlichen Auge. +++ Da werde ich um die fünfzehn gewesen sein, mit meiner Band Regenmantel mit Manzur, Knille und Charles plus unserem Manager Todd Koslowski hatten wir uns nach einer Probe im leerstehenden Hühnerstall gegen Sonnabendspätnachmittag in den Linienbus 29 gesetzt und waren vom Dorf in die heimliche Großstadt BS – in der Bambule ein Punk-Konzert zu besuchen, genauer gesagt von den Bombed Bodies. Bis der Punk endlich abging, mäanderten wir kurz nach nebenan auf eine Coca-Cola in die Anarcho-Spelunke namens Treibhaus. Als Fünfzehnjährigem fehlt einem glücklicherweise jegliche Selbstreflexion, im Stimmbruch mit den halbpubertären Kumpels in einem Punkschuppen der heimlichen Großstadt zu sitzen und Cola zu trinken. Unbeirrt hingen wir an unserem Tisch und nippelten an den Gläsern. Da geschah etwas Unerwartetes, das bleibenden Eindruck hinterlassen und in unseren aktiven Wortschatz eingehen sollte. Vier versprengte, sogenannte Alternative in so Spätsiebziger-Alternativenklamotten betraten den Laden wie einen Saloon. Wie einen Saloon vielleicht eher nicht, aber egal. Setzten sich an den Nachbartisch, bestellten vier Bier. Und saßen da rum. Achtung, und jetzt kommt’s! Also, erstmal kam das Bier, das stand jetzt vor ihnen am Tisch. Und dann geschah erst einmal immer noch nichts. Plötzlich dann aber doch, da nämlich steht ein gestandener Punk unaufgeregt auf, schlurft zu den Alternativen, baut sich vor ihrem Tisch auf – und sagt schmucklos, doch beeindruckend nachdrücklich, diese neun Worte: „Wanzenpack, fünf Minuten für das Bier – und dann raus!“ +++ Ein Satz wie ein Keulenschlag, in Fels geritzt für die Ewigkeit.

 

Überschrift inspired by: Up the Hill Backwards © David Bowie, 1980

Überschrift also inspired by: The Greenhouse Effect © Plan B, 1989

Textauszug aus: Zur See (Roman, angeblich) © Dörte Hansen, 2022

Suhler Jagdhütte | Haus der Statistik | Hans-Beimler-Str. 70 | 1020 Berlin/Hauptstadt der DDR

Freizeitpunk © Regenmantel, 1979

Bombed Bodies: Braunschweiger Punkbank um Pedder Teumer mit Kat und Pelle (Vorgängerband von Daily Terror)

Bambule | Kastanienallee | Braunschweig

Da geht der Punk ab © Yasmin Gate, 2014

Treibhaus | Kastanienallee | Braunschweig

*) it’s so bad, it’s spelled with two A

Wet Sun Between My Toes / Geschichten aus dem Paulanergarten.

Fiktive Postkarten: Olympiastadion Berlin © Kai von Kröcher, 2024

 

I’m in another body who’s in somebody else. +++ Was mir allerdings neu ist: Mit dem Slogan aus dem Werbespot jener Münchner Brauerei oben („Geschichten aus dem Paulanergarten“/Anm.d.Red.) werden auf Social-Media-Plattformen neuerdings Beiträge kommentiert, deren Inhalt man eher so für Fake-News hält. +++ Mit meinem Sohn, Sie ahnen es schon, bin ich am Montag im Berliner Olympiastadion gewesen. Natürlich fand gerade kein Fußballspiel statt. Stattdessen wurde der Rasen gemäht, das war lustig: Da kamen tatsächlich zwei Männer mit je einem gewöhnlichen Handrasenmäher und scherten zu Fuß ein um die andere Bahn – Handarbeit par exellence. Wir waren fast ganz allein im schönsten deutschen Oval, doch überall wurde gehämmert, gebohrt und geschweißt – die Fußball-Europameisterschaft steht vor der Tür. +++ Zu Hause bei uns steht neben der Union-Tasse von neulich aus Köpenick jetzt aus Charlottenburg auch eine Hertha-Tasse im Schrank – einmütig wie die Klaviertasten bei Stevie Wonder und Paul McCartney seinerzeit, nur nicht so schwülstig. +++ Zudem mache ich mir etwas Sorgen wegen des Logos auf der Postkarte oben – meinen Sie, ich werde wieder verklagt? +++ Und wie Sie sehen, sind wir anschließend noch eingekehrt und haben uns draußen vorm Stadion jeder eine ansonsten auf dem Index stehende Portion Pommes gegönnt – der eine rot, der andere weiß…

 

Überschrift inspired by: Feel It © Ciara Lea, 2023

Überschrift also inspired by: Geschichten aus dem Paulanergarten (Fernsehwerbespots) © Paulaner-Brauerei München, 2000er Jahre ungefähr

Lyrics: Alesis © mk.gee, 2024

Ebony and Ivory © Paul McCartney & Stevie Wonder, 1982 

Die besten aller Tage / I Just Wanna Be Your Dog.

Fiktive Postkarten: Gruß aus Berlin (Grand Hotel Viktor Orbán) © Kai von Kröcher, 2024

 

You’d better run, run, run, boy, faster than the past. +++ Vorweg heute zunächst einmal eine Frage an die Community: Sind Ihnen die Bilder hier tendenziell eigentlich eher zu dunkel? Weil, ich habe jetzt nämlich gesehen, die Monitorhelligkeit auf meinem Gerät ist hoch bis zum Anschlag gepitched. Das verunsichert mich gerade ein bisschen, da fehlt mir jegliche Referenz. +++ Weil ich, wie Sie ja wissen, gerne mit meiner Old-School-Mentalität kokettiere – wissen Sie, was ich gestern gemacht habe? Ich bin rüber nach Köpenick, habe in dem Union-Laden dort Tickets gekauft für das Derby der Frauen in der Alten Försterei Ende April: Eisern Union gegen die Alte Dame Hertha. Ottos erstes Mal im Stadion, das wollte ich nicht über das Internet machen. Habe mich freundlich beraten lassen: Mittlere Gegengerade fernab des Ultra-Blocks, Stehplätze Mutter, Papa, Kind für insgesamt faire zehn Euro. +++ Im Anschluss habe ich dann einen verzeihlichen Fehler gemacht, bin spontan mit dem Bus rauf nach Kaulsdorf-Nord. Ich will mir nicht anmaßen, einen objektiven soziokulturellen Einblick mitgenommen zu haben. Was aber auffiel: die meisten Mütter und Väter dort sprachen mit ihren Kindern, als wären es ihre Hunde. +++ Was mir ein guter Freund (und dito spätgebärender Vater) neulich bei einem Pils-Bier als Erziehungsphilosophie mitgab: „Dein Alltag ist ihre Kindheit!“, mutmaßlich auch in Kaulsdorf-Nord. +++ Ottos Lieblingsverein nach Union übrigens Hertha BSC – gefolgt vom unvermeidlichen FC Bayern, dem BTSV Eintracht aus Braunschweig und schließlich dem VfL Wolfsburg.

 

Überschrift inspired by: Die besten aller Tage (Dokumentation) © Annekatrin Hendel (Regie), D 2024

Überschrift also inspired by: I Wanna Be Your Dog © The Stooges, 1969 

Lyrics: Run Run Run © The Libertines, 2023

Under the Möckern Bridge / Der Gandhi der Bundesliga.

Fiktive Postkarten: Alt-Berlin (Molkenmarkt/Nikolaikirche) © Kai von Kröcher, 2024

Fiktive Postkarten: Gruß aus Berlin (Möckernbrücke) © Kai von Kröcher, 2024

Fiktive Postkarten: Biesdorf-Süd © Kai von Kröcher, 2024

 

It’s hard to believe that there’s nobody out there. +++ Aber wahr. +++ Vielleicht bin ich ganz einfach der Gandhi unter den latent Fußballinteressierten. Jedenfalls: ich bin ja immer so tolerant, dass es beinahe schon weh tut. Mein Sohn und ich, letzten Sonnabend sind wir spontan also wieder zur Alten Försterei, natürlich hatten wir gar keine Karten. Wir setzen uns einfach immer nur in den Wald und lauschen der Kulisse. +++ Das auf den Fotos aber sind andere Sachen – ich finde den Bogen hier nicht. +++ An der Bratwurstbude vorm Stadion – im Herzen und vom Verstand her bin ich ja eher der Vegetarier, doch in so einem Setting kann ich einfach nicht anders. Die Würstchenfrau zwinkerte Otto kumpelhaft zu: „Na, biste mit Opa zum Fußball?“ Wir sehen uns dann immer so an, innerlich mit den Augen gerollt. +++ Gegen Ende der zweiten Halbzeit sprachen uns zwei freundliche Jungens an, ob wir für Union seien. „Ja, aber wir haben keine Ahnung, wie es steht.“ „1:0 für Leverkusen“, meinte der eine, erzählte was von Elfmeter. Und dass er ein Foto hat von sich mit Gosens. +++ Nun hörten wir auch die Leverkusener drinnen singen. Der Gandhi in mir gratulierte Bayer 04 vorzeitig zur Deutschen Meisterschaft, von Herzen Xabi Alonso. Obwohl für Union, obwohl Sympathisant des ruhmreichen FC Bayern – das verstehen Sie nicht. Zum Olympiastadion werden Gandhi und Sohn demnächst natürlich dann auch mal…

 

Überschrift inspired by/Lyrics: Under the Bridge © Red Hot Chili Peppers, 1991

Überschrift also inspired by: Mahatma Gandhi (* 2. Oktober 1869 in Porbandar; † 30. Januar 1948 in Neu-Delhi), ind. Rechtsanwalt, Motorradfahrer, Asket und Pazifist

Xabi Alonso (* 25. November 1981 in Tolosa, Baskenland), ehem. span. Fußballnationalspieler und heutiger Trainer bei Bayer 04 Leverkusen

Robin Gosens (* 5. Juli 1994 in Emmerich am Rhein), dt.-niederl. Fußballspieler, zzt. bei Union und ehemals dt. Nationalelf

Zur Sache, Schätzchen / Prima Primaten aus Lima.

Fiktives Vinyl: Der alte Chinese – Melancholische Melodien (Vol. 1) © Kai von Kröcher, 2021/2022

 

What’s that floating in the water, Ol‘ Neptuna’s only daughter. +++ Ein bisschen Getier hatten wir natürlich gesehen: Gleich vorne die Elefanten – mein Sohn fand die Hühner wesentlich interessanter. Im Pandabereich dudelten chinesische Weisen vom Band. Das chinesische Tonsystem basiert auf starken Einflüssen indischer und mesopotamischer Herkunft, man kam sich vor wie beim Chinesen. Ich erzählte Otto die Sache mit West-Berlin, dass West-Berlin berühmt war für seine Pandas. Bao Bao – und wie hieß der andere Ganove? Die jedenfalls sollten damals endlich für Nachwuchs sorgen: Die Springer-Presse setzte sie unter Druck – eines Tages, klar, war die Leidenschaft nicht mehr da. Sowieso eher träge Kollegen. Beeindruckender war da schon der Tiger, der lässig in einer Runde durchs Wasser sein überschaubares Reich absteckte. +++ Das auf dem Cover heute, das war ja auch so eine Art Wahrzeichen West-Berlins: Heizkraftwerk Wilmersdorf, nicht wenige werden sentimental werden bei seinem Anblick. +++ Gestern brachte ich meinen Sohn zum Zug, er ist mit der Mama in die Berge. Auf dem Rückweg, am Bahnhof Zoo, geriet ich in Massen von Hertha- und Dortmund-Fans. Spontan drängte ich mich mit ihnen in die proppenvolle S-Bahn zum Olympiastadion, ich war ja schon ewig nicht mehr beim Fußball. Wunderte mich, wie entspannt die Stimmung hier war. Blauweiße und gelbe Fantrikots bunt durcheinander gemischt: ein freundliches Gefrotzel hier, ein bisschen Gefachsimpel dort – die meisten Dortmund-Fans kamen wahrscheinlich eh aus Berlin. +++ Im Zoologischen Garten jedenfalls, machen wir es kurz: Viele Gehege schienen mir leer, als seien die Tiere im Urlaub. Als das angekündigte Gewitter sich ankündigte, gingen Otto und ich ins Zoo-Restaurant, holten uns zwei Teller Nudeln und setzten uns draußen unter den großen Schirm. Anderthalb Stunden lauschten wir beinah alleine dem Sommerregen – wie im Urwald kam man sich vor, regelrecht großartig. +++ Am Olympiastadion angekommen, gab es da keine Ticketschalter mehr. Und weil ich zu blöd war – ich kokettiere ja gerne mit meiner Blödheit. Weil ich zu blöd war, mir online ein Ticket zu holen, hörte ich mir das Spiel einfach von draußen an. Ich tigerte lässig ums Stadion und lauschte den Gesängen von drinnen. Irgendwer fragte mich nach dem Spielstand, ich sagte: „Ich tippe mal null zu null, aber keine Ahnung.“ +++ Vielleicht sollte ich nicht immer mehrere Geschichten parallel erleben/erzählen, beim nächsten Wolkenbruch jedenfalls retteten Otto und ich uns ins Affenhaus, da verfiel man der Schwermut: Die Käfige im Achtzigerjahre-Jugendzentrum-Design und ausgeleuchtet wie in der Lindenstraße, die Schimpansen viel größer, als ich sie aus der Trigema-Werbung in Erinnerung hatte. Lethargisch saßen sie da – mit ausdruckslosem Gesicht ließ der eine seine Lebensgeschichte Revue passieren: Man konnte die Verzweiflung förmlich spüren, dass man ihm seine Schreibmaschine weggenommen – als endlich der Himmel aufklarte, machten wir uns auf den Heimweg.

 

Überschrift inspired by: Bao Bao (宝宝, chinesisch für „Schätzchen“ – * 1978 in China; † 22. August 2012 in Berlin), ältester weltweit in einem zoologischen Garten lebender Großer Pandabär (Ailuropoda melanoleuca)

Überschrift also inspired by: Zur Sache, Schätzchen (Filmkomödie mit Uschi Glas, Werner Enke) © May Spils (Regie), Werner Enke (Drebuch), BRD 1968

Überschrift also inspired by: Prima Klima © Prima Klima, 1981

Lyrics: Mr. Grieves © Pixies, 1989

Hertha BSC – Borussia Dortmund | Olympiastadion Berlin | 27. August 2022 | 15:30 Uhr | 0:1 (Modeste, 32. Spielminute)

Lindenstraße: erste dt. Seifenoper, begründet von Hans W. Geißendörfer © WDR, 1985 – 2020

Trigema („Trikotwarenfabriken Gebrüder Mayer“), dt. Mischunternehmen im Bereich Textilproduktion (Sport- und Freizeitbekleidung) und Tankstellenvertrieb