Every Breath You Take / Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war.

Oktapolare Fotografie: A Ecke O, zwei Tage vor Weihnachten © Kai von Kröcher, 2022 (Screenshot)

 

Standin‘ on the corner, suitcase in my hand. Jack is in his corset, Jane is in her vest – and me, I’m in a rock ’n‘ roll band. +++ Manch einer weiß es, andere wissen es nicht: In einem längst verklungenen Leben bin ich mal Popstar gewesen. Selbst das Internet erinnert sich nicht, doch das macht es noch lange nicht unwahr – im Gegenteil! In den Achtzigerjahren war ich leibhaftig Sänger der damals wohl populärsten New-Wave-Band der mittleren Großstadt BS, ganz ohne Quatsch. Besonders doll singen konnte ich technisch betrachtet jetzt vielleicht nicht, irgendwie aber passte in dieser Band doch so überdurchschnittlich viel zusammen, dass der nationale bis internationale Durchbruch dort für den mittleren Großstädter längst beschlossene Sache schien. +++ Vorletzte Nacht schlief ich bei sperrangelweit geöffnetem Fenster. Im Herbst ist das oftmals ein regelrechter Zwang, wenn draußen die Luft nach Agenten schmeckt – die Decke muss warm sein, da schlafen Sie wie ein Stein. Um sieben am Morgen wurde ich von Geschrei geweckt. Ich hörte meinen Nachbarn zwei Stockwerke über mir brüllen: „Nimm deinen Scheiß und verzieh dich, sonst komm ich dir runter!“ Verstohlen trat ich ans Fenster. Auf dem Bürgersteig stampfte eine Art wütendes Wesen wie aufgezogen herum, einen Seesack vor unserer Tür abgestellt. Gerade als mir ein Licht aufging, schrie sie (die Frau, als die sie sich entpuppte/Anm.d.Red.) mit tiefer, unheimlicher Stimme einen Namen, den ich irgendwo schon gehört hatte: „Kai von Kr***er, Braunschweig!“ Den Nachnamen spie sie irgendwie falsch aus, dafür rannte sie unbeirrt auf unsere Haustür zu und im selben Moment schellte bei mir oben die Klingel. +++ Okay, ich klär‘ das mal auf: Vor etwa zehn Jahren schickte mir in den sozialen Netzwerken eine Frau, die ich nicht kannte, eine Nachricht. Sie outete sich als ein Fan von damals aus Braunschweig. Ich fühlte mich amüsiert bis geschmeichelt, antwortete freundlich. Habe die Sache dann wieder vergessen. Bis meine Barkeeperlegenden im ruhmreichen club49 seinerzeit von einer offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf seienden Frau berichteten. Die sei in die Kneipe gekommen war und habe sich als Fan von mir von früher aus Braunschweig gebrüstet. War sämtlichen Gästen schwer auf die Nerven gegangen. Ich selber bin ihr zu der Zeit nie begegnet, habe dann später durch Zufall aber erfahren, dass sie wohl regelmäßig im Grand Hotel Viktor Urbán residiert, psychiatrische Abteilung, Station 3 oder 4. +++ Letztens bin ich morgens mit meinem Sohn auf den Rasen vorm Urban kicken gegangen, Torwarttraining und so – rechts, links, unten und oben. Da brüllte jemand vor dem Urban mit einer tiefen, irgendwie geistesgestörten Stimme meinen Namen. Otto und ich haben das Weite gesucht. +++ Das erinnert mich gerade dunkel an Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war, diesen Roman von Joachim Meyerhoff. Ich weiß nicht, ob das Buch autobiografische Züge trägt, sein Vater ist darin Chef einer psychiatrischen Klinik und sie wohnen auch dort auf dem Gelände zwischen all den Patienten, was sich charmant und sehr witzig liest. Für Ortsunkundige sollte ich erklären, dass sich das Grand Hotel Viktor Urbán mit seiner psychiatrischen Abteilung vis-à-vis unserer Wohnung in den Himmel kratzt und seine Insassen gerne davor und am Kanal flanieren, während sie rauchen. +++ Das wird aber wieder eine lange Geschichte. +++ Meinem Sohn hatte ich vor ein paar Wochen mal einen Song vorgespielt, ich dachte, es sei jetzt mal an der Zeit: „Rate mal, wer das ist!“ Das hatte ihn ehrlich erstaunt: „Weiß Mama, dass du in einer Band warst?!“ Eher wohl nicht, ich bin mir da gar nicht so sicher – man darf die Vergangenheit gern auch mal ruhen lassen! +++ Mein Nachbar von oben jedenfalls dürfte gestern wohl direkt aus dem Bett gekommen sein, die Frau aus dem Urban beschimpfte ihn lauthals als Nazi-Opa, ich konnte ihn ja nicht sehen: „Nackt auf dem Balkon, du Schwein – ich bin eine Frau!“ Dann lief sie aufgeregt über die Straße, krakelte maskulin derb wie ein albanischer Kettenraucher immerzu „Mörder!“ und „Helfe!“ (sicherlich meinte sie „Hilfe“, schrie aber „Helfe“). +++ Und damit, wie ich abends immer zu meinem Sohn sage, ist die Geschichte zu Ende. Nur eine Sache noch kurz: Im letzten Jahr hatte sie tatsächlich einmal direkt vor meiner Wohnungstür gestanden. Unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand hatte sie geklingelt bei mir geklingelt: „Kai von Kr***er – ich wollte nur fragen, ob die Oma von Dieter* hier noch im Haus wohnt!“

 

Überschrift inspired by: Every Breath You Take © The Police, 1983

Überschrift also inspired by: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (Roman) © Joachim Meyerhoff, 2013

Bildunterschrift inspired by: A Ecke O © Winson, 2004

Lyrics: Sweet Jane © The Velvet Underground, 1970

La Petite Mort (* 1982 in Braunschweig; † 1989 ebenda), New-Wave-Band

Klinikum Am Urban | Dieffenbachstraße 1 | 10967 Berlin

The Lunatics (Have Taken Over The Asylum) © The Fun Boy Three, 1981

* oder von Jens, von Klaus, von Bernd oder von wem auch immer

 

 

Die besten aller Tage / I Just Wanna Be Your Dog.

Fiktive Postkarten: Gruß aus Berlin (Grand Hotel Viktor Orbán) © Kai von Kröcher, 2024

 

You’d better run, run, run, boy, faster than the past. +++ Vorweg heute zunächst einmal eine Frage an die Community: Sind Ihnen die Bilder hier tendenziell eigentlich eher zu dunkel? Weil, ich habe jetzt nämlich gesehen, die Monitorhelligkeit auf meinem Gerät ist hoch bis zum Anschlag gepitched. Das verunsichert mich gerade ein bisschen, da fehlt mir jegliche Referenz. +++ Weil ich, wie Sie ja wissen, gerne mit meiner Old-School-Mentalität kokettiere – wissen Sie, was ich gestern gemacht habe? Ich bin rüber nach Köpenick, habe in dem Union-Laden dort Tickets gekauft für das Derby der Frauen in der Alten Försterei Ende April: Eisern Union gegen die Alte Dame Hertha. Ottos erstes Mal im Stadion, das wollte ich nicht über das Internet machen. Habe mich freundlich beraten lassen: Mittlere Gegengerade fernab des Ultra-Blocks, Stehplätze Mutter, Papa, Kind für insgesamt faire zehn Euro. +++ Im Anschluss habe ich dann einen verzeihlichen Fehler gemacht, bin spontan mit dem Bus rauf nach Kaulsdorf-Nord. Ich will mir nicht anmaßen, einen objektiven soziokulturellen Einblick mitgenommen zu haben. Was aber auffiel: die meisten Mütter und Väter dort sprachen mit ihren Kindern, als wären es ihre Hunde. +++ Was mir ein guter Freund (und dito spätgebärender Vater) neulich bei einem Pils-Bier als Erziehungsphilosophie mitgab: „Dein Alltag ist ihre Kindheit!“, mutmaßlich auch in Kaulsdorf-Nord. +++ Ottos Lieblingsverein nach Union übrigens Hertha BSC – gefolgt vom unvermeidlichen FC Bayern, dem BTSV Eintracht aus Braunschweig und schließlich dem VfL Wolfsburg.

 

Überschrift inspired by: Die besten aller Tage (Dokumentation) © Annekatrin Hendel (Regie), D 2024

Überschrift also inspired by: I Wanna Be Your Dog © The Stooges, 1969 

Lyrics: Run Run Run © The Libertines, 2023

Stiebel John Elton / All the Young Girls Love Alice.

Fiktives Vinyl: Walter Boarding – Schmetterling in Aspik © Kai von Kröcher, 2021/2022

 

God, it looks like Daniel – must be the clouds in my eyes. +++ Virenbedingt werde ich heute Abend wohl passen müssen. Was die Szenegaststätte der Bürgerinnen und Bürger angeht – das gebe ich offen zu. +++ Wenn man Elon Musk ein „i“ hinzufügt, heißt er auf einmal Elon Musik. Kauft man dann noch ein „t“: Elton Musik! +++ Wussten Sie das? +++ Heute Nacht oder am Morgen, wenn man seit Tagen entkräftet im Bett liegt: Grenzen verschwimmen. Da war der Blog kurz wieder noch einmal weg, dann war er auf einmal wieder da. Statt meine Seite anzuzeigen, wurde kurzzeitig für Sanitärsachen und so was geworben. Dieses leidige Thema hatte allerdings auch einen positiven Nebeneffekt: In zahlreichen Telefonaten „mit meinem Anbieter“ nämlich sind wir auch meine ganzen Verträge einmal etwas genauer durchgegangen. Und darauf gekommen, zwei Drittel davon kann man einfach mal kündigen. +++ Apropos: Hatten auch Sie Bolsonaros Geheimdienst hinter dem Hackerangriff auf meinen Blog hier vermutet? Direkt vor der Wahl – der Verdacht drängt sich auf! +++ Ob dieser Lula oder Luna – ob der da jetzt allerdings einen Cut zieht, was die Abholzungen angeht? Ob der korrupt ist oder nicht, das ist mir am Ende völlig egal – Hauptsache, er bringt den Scheiß da unten wieder in Ordnung. +++ Apropos: das Plattencover (oben) könnte Ihnen heute ein bisschen bekannt vorkommen, es handelt sich um die gründerzeitliche Rückansicht des Grand Hotel Urban. Dort wurde mein Sohn geboren, dort wurd‘ ich am Herzen operiert – Nieren, Schlaganfall, pipapo. Ich mag den Laden. Meinen simplen Virus-Effekt allerdings trage ich stoisch zu Hause aus. +++ Infekt, kleiner Scherz. +++ Die Platte von Walter Boarding übrigens ist gar nicht mal schlecht: Wenn ich irgendwas ja nun echt mal nicht ausstehen kann, dann ist das definitiv Minimal Techno – oder das jedenfalls, was ich dafür zu halten glaube. Walter Boarding jedoch okkupiert diesen Sound, lässt ihn in seinen düster-narrativen Visionen den Pulsschlag simulieren, verrührt ihn mit endzeitlichen Rückkopplungsorgien. +++ Als das Kind Kind war: Als ich ein Kind war, und so wird es gewesen sein. Als ich ein Kind war, hatten wir einen Badeofen von Stiebel Eltron, einen riesigen Durchlauferhitzer. Möchte man gar nicht mehr wissen, wie hoch der Energieverbrauch damals war. Ich aber habe, wenn ich als Kind in der Badewanne saß. Den recht spezifischen Geruch des blaufarbenen Badedas hab‘ ich noch heute vor Augen. Wenn man krank ist, kommt die Erinnerung hoch. Ich musste dann immer an Elton John denken – Elton John war damals sehr gut, als ich noch Kind war. Irgendwie aber auch rätselhaft: Hätte es besser nicht John Elton gehießen?

 

Überschrift inspired by: Stiebel Eltron – Unternehmen aus dem Bereich der Elektroindustrie mit Firmensitz in Holzminden

Überschrift also inspired by: All the Girls Love Alice © Elton John, 1973

Überschrift also inspired by: Alice Weidel (* 6. Februar 1979 in Gütersloh), dt. Politikerin

Lyrics: Daniel © Elton John, 1973

Bernie Taupin (* 22. Mai 1950 in Ruskington, East Kesteven Rural District ), englischer Lyriker, Liedtexter und Maler

club49 | Ohlauer Straße 31 | Berlin-Kreuzberg | Jubiläumsparty | heute ab 19:00 Uhr

Elon Musk (* 28. Juni 1971 in Pretoria , Südafrika ), kanadisch-südafrikanischer Unternehmer

Lula da Silva (* 27. Oktober 1945 in Caetés, Pernambuco als Luiz Inácio da Silva), brasilianischer Präsident

Peter Poelzig (* 6. August 1906 in Breslau; 26. Januar 1981 in Duisburg), dt. Architekt

Russian Lips / Zeiten ändern dich.

Fiktives Vinyl: Kehle – Du hängst jetzt immer mit Filmtypen ab © Kai von Kröcher, 2015/2022

 

And when she said she’d be a movie queen nobody laughed. +++ Die Stadt verändert sich schnell. +++ Ich hatte Otto zur Kita gebracht – und weil der Herbst so wunderbar leuchtete, haben wir urstens getrödelt. Ich nutzte den Augenblick und gab ihm noch etwas Weisheit mit auf den Weg. Ich sagte: „Herbst ist nur jetzt, Stress aber kannst du später im Leben noch oft genug haben.“ Er meinte, d’accord! Und wie zum Beweis meiner These kam er dann doch gerade noch rechtzeitig zum Frühstück. +++ Nanü?! +++ Frühstücke bekommt er immer zweie am Morgen: Ein erstes bei mir mit dem Papst, ein zweites dann bei den Früchten. „Früchte“, so heißt seine Gruppe da in der Kita. Und natürlich hatte ich „Paps“ schreiben wollen, nicht Papst – aber Papst ist schon recht lustig! +++ Um hier nicht so viel rumzufaseln, hatte der Post heute folgendermaßen anfangen sollen: ‚Die Stadt verändert sich schnell, rasend schnell – wer wüsste das besser als die Band Kehle?‘ +++ Wie finden Sie das? Auf dem Rückweg von der Kita nämlich hatte ich mich vor das neue Café da gesetzt, im Schatten des Grand Hotel Urban. Wobei „Schatten“ natürlich im übertragenen Sinne: Man hat dort den besten Sonnenschein der Stadt. Und wenn man sich rechtzeitig hinsetzt, da kann man dann Otto und mich auf dem Wege zur Kita beobachten. So Stalker mäßig, wenn man will. +++ Muss aber nicht sein. +++ Jetzt hatte ich mich also alleine draußen da hingesetzt: Cappuccino, Croissant, Tagesspiegel. Plötzlich kamen die Frauen, das dürfte kein Zufall sein. Setzten sich links an den Tisch und an den Tisch hinter mir – von der Straße, also von Osten aus gesehen. An jedem Tisch zwei. Die hinter mir sprachen Englisch, irgendwas so von wegen, schön, dass die Sonne scheint. An dem anderen Tisch sagte die eine zur anderen: „Die Stadt verändert sich schnell.“ +++ Wer wüsste das besser als die Band Kehle? Das Album hatte ursprünglich Wohlstandsverlust heißen sollen, die Plattenfirma aber sofort ein striktes Veto eingelegt und gesagt: dann sprängen die AfD-Wähler ab, man müsse auch an die Verkaufszahlen denken. Stattdessen hatte sie Russian Lips vorgeschlagen, da hatte die Band aber sich quergestellt. Du hängst jetzt immer mit Filmtypen ab war dabei letztlich ein Kompromiss, das sieht man der Platte auch an. +++ Falls Sie sich wundern – das Cover wurde einst in der Löwenstadt Braunschweig fotografiert: Außerhalb des linken Bildrandes sieht oder sieht man eben auch nicht den Hauptbahnhof mit der schönen Empfangshalle, die hoffentlich unter Denkmalschutz steht. Im Rücken hatte der Fotograf wahrscheinlich in etwa die Stadthalle. Halb rechts geradeaus, das dürfte das Atrium-Hotel sein – dort haben vor vielen Jahren Hot Chocolate mal geschlafen…

 

Überschrift inspired by: Russian Lips © Kehle, 2022 (unofficial)

Überschrift also inspired by: Zeiten ändern dich (Bushido-Film-Biografie) © Bernd Eichinger (Drehbuch), Uli Edel (Regie), D 2010

Lyrics: Emma © Hot Chocolate, 1974

Ein Kind von Traurigkeit / Wissenswertes über Solingen.

Looking Out My Back Door: Klinikum am Urban © Kai von Kröcher, 2020

 

Blue, the dawn is growing blue. +++ Das Bild heute ist von April. Das ist der Weg, wenn ich mit Otto die Abkürzung über das alte Krankenhausgelände rüber zu Urbanstraße und Südstern nehme. Die Hintertür des Neubaus von ’68 sozusagen. Da habe ich ja nu auch schon etliche schöne Stunden verbracht, das meine ich wirklich so. +++ Wenn ich mit meinem hervorragenden Sohn Otto am Krankenhaus vorbeigehe – manchmal zeige ich darauf und erzähle, wie er seinerzeit dort geboren worden ist. Als alter Scherzkeks füge ich dann immer hinzu: „Weißt du das noch?“ Einen Moment wird er mich prüfend ansehen – dann nickt er. +++ So war das damals. +++ Aber jetzt mal eine lustige Geschichte, regelrecht ein Anekdötchen: Die Sonne versank gerade gestern hinter den Häusern und tauchte die Welt um den Landwehrkanal in rotgoldenes Licht. Ich war auf dem Heimweg vom Club, der hat seine Außenterrasse jetzt wieder geöffnet. Von 17 bis zehn Uhr abends. Abstände werden diszipliniert eingehalten, davon konnte ich mich überzeugen. +++ Okay, wo waren wir stehengeblieben? +++ Ich ging also das Planufer hinunter, plötzlich stoppte auf dem Bürgersteig vor mir. Sie müssen sich das vorstellen wie in einem Gangsterfilm, wo alle vier Türen einer alten Limousine aufgerissen werden, und dann zerren Ganoven in Mänteln irgendjemanden in ihr Auto. In diesem Falle ein Champagnermetallic-farbener Opel Corsa. Aus der Beifahrertür springt ein Typ, kommt auf mich zu, meint irgendetwas so von wegen, mein lieber Herr oder so: „Mein lieber Herr, kennen Sie sich aus? Wir sind nicht aus Berlin und müssen nach Leipzig – wir suchen den Weg zur Autobahn.“ +++ Die Geschichte hat es echt in sich, der Lacher geht am Ende auf meine Kosten – das macht einen guten Entertainer aus. +++ Naja, ich so erklärt: da vorn bis zur Ampel, dann rechts. Immer geradeaus, dann ist das bald ausgeschildert und so. Er nochmal nachgeplappert: Bis zur Ampel, dann rechts. Dann sieht er mir ins Gesicht: „Was fällt Ihnen zu Solingen ein?“ Merkwürdige Frage. Mir fiel der Spruch ein von Walter Giller in dem Film Zwei unter Millionen mit Hardy Krüger. Giller ist da so’n charmanter Hallodri aus Ost-Berlin kurz vor dem Mauerbau. Da geht es um irgend’ne Frau, und Giller meint, so scharf wie die sei, müsse die bestimmt zwei Jahre in Solingen gelebt haben, oder so. „Messer“, sage ich. Der Typ plappert mir nach: „Messer!“ In einem echten Ganovenfilm hätte ich jetzt gesagt: „Was bist du – ein verdammter Papagei?!“ +++ Er rennt zu seinem Kofferraum, kommt mit irgendwas in der Hand wieder: „Wir haben gerade auf der Messe gearbeitet.“ Messe in Zeiten der Pandemie. Er sagt: „Hier, ein Messerset – was denken Sie, was kostet das regulär? Weil Sie so freundlich sind, schenken wir Ihnen das.“ Jetzt stehe ich also da – mit einem Paket Messer in der Hand auf dem Bürgersteig und schaue irgendwie ratlos drein. Ich denke, die Geschichte sei jetzt vorbei. Er fragt mich: „Rasieren Sie sich?“ Jetzt rennt er zum Kofferraum und kommt mit einem neuverpackten Elektrorasierer zurück: „Weil Sie so freundlich sind, schenken wir Ihnen den.“ +++ Ich stehe jetzt also mit einem Messerset und einem Rasierapparat auf dem Bürgersteig und denke, das geht jetzt so weiter. Tischlein deckt dich, der Typ aber ist ein brillanter Schauspieler: Er verabschiedet sich, macht einen Schritt auf sein Auto zu. Dann dreht er sich Peter-Falk-mäßig um: „Ähm, wir müssten noch tanken – nach Leipzig. Könn‘ Sie uns nicht vielleicht was für unseren Sprit dazugeben – ich meine…“, er zeigt auf meine Messer und den Rasierapparat: „Im Laden kostet das zusammen 129 Euro!“ Ich gucke in meine Hosentasche: „Fünfzehn Euro, das ist mein letztes Geld. Zehn kann ich Ihnen geben, fünf …“ „Brauchen Sie selber“, plappert er mir prophylaktisch nach. Ich gebe ihm meinen Zehner, er sagt: „Sie haben von uns ein Messerset bekommen und einen Rasierapparat – wollen Sie uns dafür nicht auch noch die fünf Euro geben?“ Jetzt denke ich, ich bin bei Kurt Felix: „Aber ich brauche doch gar keinen Rasierer!“ +++ Tja, wie geht die Geschichte weiter?!

 

Überschrift inspired by: Ich bin kein Kind von Traurigkeit © Gitte, 1975

Überschrift also inspired by: Wissenswertes über Erlangen © Foyer des Arts, 1982

Bildunterschrift inspired by: Looking Out My Back Door © Creedence Clearwater Revival, 1970

Lyrics: Solo Sunny © Regine Dobberschütz, 1979

Renate Krößner (* 17. Mai 1975 in Osterode/Harz; † 25. Mai 2020 in Berlin-Mahlow), Schauspielerin

Solo Sunny © Konrad Wolf (Regie), DDR 1979

club49 | Ohlauer Str. 31 | 10999 Berlin-Kreuzberg | z.zt. 17:00 – 22:00 Uhr

Zwei unter Millionen (mit Walter Giller, Hardy Krüger, Loni von Friedl) © Victor Vicas, Wieland Liebske (Regie), BRD 1961

Peter Michael Falk (* 16. September 1927 in New York City; † 23. Juni 2011 in Beverly Hills), Schauspieler

Pull up to the Bumper / Der Mann mit dem Ast hat den Zug verpasst.

Urbane Fotografie: Blick aus der Geburtenstation, damals © Kai von Kröcher, 2018

 

The sparkle in your eyes keeps me alive, and the sparkle in your eyes keeps me alive. +++ Wie hütet man einen Augapfel? +++ Okay. +++ Manche sind so grandios produktiv während der Isolation, da möchte man neidisch werden: Tati & Cécile beispielsweise werfen alle paar Tage neue Songs auf den Markt, das Größte seit Gainsbourg und der Bardot. +++ Vielleicht ist es die Leichtigkeit, diese scheinbare Einfachheit der Komposition – in Kombination mit ihrer visuellen Umsetzung, deren Artwork. +++ Oder ist das jetzt Quatsch, was ich Ihnen da erzähle? +++ Checken Sie einfach kurz mal den Link aus: Follow you… © Graf Tati & Cécile Dupaquier, 2020! +++ Ansonsten begeistert mich, neben der elektrischen Bläue über Berlin – neben der Reinheit des Himmels fasziniert mich die Ruhe: Mit meinem prima Sohn Otto machte ich gestern einen sonnigen Sonntagsspaziergang. Es war so still, man konnte die U-Bahn aus der Ferne vom Wassertorplatz bis an die Kirche am Südstern hören – wir standen dort Ecke Fontanepromenade, das sind einige Meilen! +++ Ansonsten ist es mit einem kleinen Buben relativ mühsam zurzeit, viele Bürger da draußen rennen ihn stumpfsinnig fast über den Haufen – Abstandhalten erst bei Kindern ab sechzehn! +++ Naja, gut: die Pandemie ist ja eh jetzt vorbei. +++ Aber mal etwas anderes: Ottos erstes, beziehungsweise sein liebstes Wort übrigens heißt Puder. Otto besteht während des Wickelns darauf, wie ein knusprig gebackenes Bauernbrot vom Bäcker eingepudert zu werden. Das hört sich aus seinem Mund immer so an wie Kuba mit P: „Pubah!“ +++ Finden Sie doch auch zum Dahinschmelzen süß, oder nicht? +++ Ein Komödiant ist Otto ganz nebenbei übrigens auch: Er läuft in letzter Zeit gern irgendwie wie ein Buckliger herum – und kringelt sich dabei köstlich. Ein bisschen wie Groucho Marx, das kann ich nicht richtig beschreiben. +++ Buckel hieß bei uns auf dem Dorf früher dort im Ostfälischen übrigens „Ast“, das mit dem Zug war so’n Spruch. +++ Ich muss dann immer an Josefine Mutzenbacher denken, wenn Otto vom Pudern spricht – ein Roman des bekannten Physiotherapeuten Sigmund Freud, der spielt in Butzbach in Hessen. +++ Auf dem Foto, das fällt mir eben gerade erst auf: Sieht aus, als stünden da zwei aus der 74er-Weltmeistermannschaft zwischen den Bäumen, Beckenbauer und Hacki Wimmer. +++ Nee: hinten, das ist eindeutig Müller!

 

Überschrift inspired by: Pull Up to the Bumper © Grace Jones, 1981

Überschrift also inspired by: Songs for the Deaf © Queens of the Stone Age, 2002

Lyrics: She Sells Sanctuary © The Cult, 1985

Follow you… © Graf Tati & Cécile Dupaquier, 2020

Sound and Vision © David Bowie, 1977

Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt (Roman) © anonym, wahrscheinlich aber Felix Salten, 1906