Every Breath You Take / Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war.

Oktapolare Fotografie: A Ecke O, zwei Tage vor Weihnachten © Kai von Kröcher, 2022 (Screenshot)

 

Standin‘ on the corner, suitcase in my hand. Jack is in his corset, Jane is in her vest – and me, I’m in a rock ’n‘ roll band. +++ Manch einer weiß es, andere wissen es nicht: In einem längst verklungenen Leben bin ich mal Popstar gewesen. Selbst das Internet erinnert sich nicht, doch das macht es noch lange nicht unwahr – im Gegenteil! In den Achtzigerjahren war ich leibhaftig Sänger der damals wohl populärsten New-Wave-Band der mittleren Großstadt BS, ganz ohne Quatsch. Besonders doll singen konnte ich technisch betrachtet jetzt vielleicht nicht, irgendwie aber passte in dieser Band doch so überdurchschnittlich viel zusammen, dass der nationale bis internationale Durchbruch dort für den mittleren Großstädter längst beschlossene Sache schien. +++ Vorletzte Nacht schlief ich bei sperrangelweit geöffnetem Fenster. Im Herbst ist das oftmals ein regelrechter Zwang, wenn draußen die Luft nach Agenten schmeckt – die Decke muss warm sein, da schlafen Sie wie ein Stein. Um sieben am Morgen wurde ich von Geschrei geweckt. Ich hörte meinen Nachbarn zwei Stockwerke über mir brüllen: „Nimm deinen Scheiß und verzieh dich, sonst komm ich dir runter!“ Verstohlen trat ich ans Fenster. Auf dem Bürgersteig stampfte eine Art wütendes Wesen wie aufgezogen herum, einen Seesack vor unserer Tür abgestellt. Gerade als mir ein Licht aufging, schrie sie (die Frau, als die sie sich entpuppte/Anm.d.Red.) mit tiefer, unheimlicher Stimme einen Namen, den ich irgendwo schon gehört hatte: „Kai von Kr***er, Braunschweig!“ Den Nachnamen spie sie irgendwie falsch aus, dafür rannte sie unbeirrt auf unsere Haustür zu und im selben Moment schellte bei mir oben die Klingel. +++ Okay, ich klär‘ das mal auf: Vor etwa zehn Jahren schickte mir in den sozialen Netzwerken eine Frau, die ich nicht kannte, eine Nachricht. Sie outete sich als ein Fan von damals aus Braunschweig. Ich fühlte mich amüsiert bis geschmeichelt, antwortete freundlich. Habe die Sache dann wieder vergessen. Bis meine Barkeeperlegenden im ruhmreichen club49 seinerzeit von einer offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf seienden Frau berichteten. Die sei in die Kneipe gekommen war und habe sich als Fan von mir von früher aus Braunschweig gebrüstet. War sämtlichen Gästen schwer auf die Nerven gegangen. Ich selber bin ihr zu der Zeit nie begegnet, habe dann später durch Zufall aber erfahren, dass sie wohl regelmäßig im Grand Hotel Viktor Urbán residiert, psychiatrische Abteilung, Station 3 oder 4. +++ Letztens bin ich morgens mit meinem Sohn auf den Rasen vorm Urban kicken gegangen, Torwarttraining und so – rechts, links, unten und oben. Da brüllte jemand vor dem Urban mit einer tiefen, irgendwie geistesgestörten Stimme meinen Namen. Otto und ich haben das Weite gesucht. +++ Das erinnert mich gerade dunkel an Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war, diesen Roman von Joachim Meyerhoff. Ich weiß nicht, ob das Buch autobiografische Züge trägt, sein Vater ist darin Chef einer psychiatrischen Klinik und sie wohnen auch dort auf dem Gelände zwischen all den Patienten, was sich charmant und sehr witzig liest. Für Ortsunkundige sollte ich erklären, dass sich das Grand Hotel Viktor Urbán mit seiner psychiatrischen Abteilung vis-à-vis unserer Wohnung in den Himmel kratzt und seine Insassen gerne davor und am Kanal flanieren, während sie rauchen. +++ Das wird aber wieder eine lange Geschichte. +++ Meinem Sohn hatte ich vor ein paar Wochen mal einen Song vorgespielt, ich dachte, es sei jetzt mal an der Zeit: „Rate mal, wer das ist!“ Das hatte ihn ehrlich erstaunt: „Weiß Mama, dass du in einer Band warst?!“ Eher wohl nicht, ich bin mir da gar nicht so sicher – man darf die Vergangenheit gern auch mal ruhen lassen! +++ Mein Nachbar von oben jedenfalls dürfte gestern wohl direkt aus dem Bett gekommen sein, die Frau aus dem Urban beschimpfte ihn lauthals als Nazi-Opa, ich konnte ihn ja nicht sehen: „Nackt auf dem Balkon, du Schwein – ich bin eine Frau!“ Dann lief sie aufgeregt über die Straße, krakelte maskulin derb wie ein albanischer Kettenraucher immerzu „Mörder!“ und „Helfe!“ (sicherlich meinte sie „Hilfe“, schrie aber „Helfe“). +++ Und damit, wie ich abends immer zu meinem Sohn sage, ist die Geschichte zu Ende. Nur eine Sache noch kurz: Im letzten Jahr hatte sie tatsächlich einmal direkt vor meiner Wohnungstür gestanden. Unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand hatte sie geklingelt bei mir geklingelt: „Kai von Kr***er – ich wollte nur fragen, ob die Oma von Dieter* hier noch im Haus wohnt!“

 

Überschrift inspired by: Every Breath You Take © The Police, 1983

Überschrift also inspired by: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (Roman) © Joachim Meyerhoff, 2013

Bildunterschrift inspired by: A Ecke O © Winson, 2004

Lyrics: Sweet Jane © The Velvet Underground, 1970

La Petite Mort (* 1982 in Braunschweig; † 1989 ebenda), New-Wave-Band

Klinikum Am Urban | Dieffenbachstraße 1 | 10967 Berlin

The Lunatics (Have Taken Over The Asylum) © The Fun Boy Three, 1981

* oder von Jens, von Klaus, von Bernd oder von wem auch immer

 

 

Narzisten / Feelings That We Thought We’d Never Lose.

Fiktives Vinyl: Jürgen Stalin – Künstler in die Produktion © Kai Heimberg (Foto)/Kai von Kröcher (Cover-Entwurf), 2018/2023

 

I really don’t understand the situation. +++ Neulich wurde ich von jemandem gefragt, den hatte ich vor fünfunddreißig Jahren wahrscheinlich zuletzt mal gesehen. Warum ich denn mit meinen Plattencovern nicht weitermache. Dabei war das alles eh aus einem Missverständnis geboren: Tage zuvor hatte ich eine What’sApp-Nachricht bekommen von ihm, er käme nach Berlin, und ob wir uns nicht auf einen Kaffee treffen wollten. Ich wunderte mich nicht schlecht – einst war er Sänger einer lokal sehr erfolgreichen New-Wave-Band im Braunschweig der Achtzigerjahre gewesen. Auch ich bin damals Sänger einer lokal sehr erfolgreichen New-Wave-Band in Braunschweig gewesen, bloß einer anderen. Miteinander zu tun hatten wir eigentlich nie wirklich gehabt. Jeder machte halt so sein New-Wave-Ding, und fünfunddreißig Jahre später nun aus heiterem Himmel eine Tasse Kaffee – warum nicht. +++ Um die Geschichte abzukürzen, sie aufzulösen, sozusagen: Eigentlich hatte er nämlich mit einem ganz anderen Kai einen Kaffee trinken wollen, nur eben statt dessen Nummer meine weitergeleitet bekommen. Das Missverständnis wurde leider nach einem Tag nur schon aufgeklärt, unser Chatverlauf bis dahin war leicht verwirrend gewesen – und im Nachhinein deshalb natürlich sehr lustig. +++ Schade, ich hätte gern sein Gesicht gesehen, wäre ich unverhofft zu dem verabredeten Kaffee in die Kantstraße gekommen – anstelle des anderen Kais. +++ Am Ende egal, wir haben uns dann zu dritt auf den Kaffee getroffen, und das war sehr erfrischend nach all dieser Zeit. Bei der Gelegenheit fragte er mich eben auch, warum ich denn mit meinen Plattencovern nicht weitermache. Ich holte ein bisschen aus und habe es ihm haarklein auseinanderklamüsert, wie man so sagt. +++ Der eigentliche Kai übrigens, von dem im Text hier die Rede ist, der hatte seinerzeit das Foto (oben) geschossen, da schließt sich der Kreis…

 

Überschrift inspired by: The Narcissist © Blur, 2023

Überschrift also inspired by: Barbaric © Blur, 2023

Lyrics: It’s No Game (Part 1) © David Bowie, 1980

To Cut a Long Story Short © Spandau Ballet, 1980