Abends in der Hong-Kong-Bar / Vulnerable Person.

Fiktives Vinyl: Vulnerable Person – Abends in der Hong-Kong-Bar © Kai von Kröcher, 2020/2022

 

You’re such a wonderful person but you got problems. +++ Um noch einmal auf Rex Gildo und das Ding mit der ITB zurückzukommen, der Internationalen Tourismusbörse in West-Berlin: 1988 hatten wir in Braunschweig kein Fernsehen und auch keine Stars. Natürlich hatten wir Fernsehapparate, so meine ich das nicht – bloß gab es kein Fernsehen in dem Sinne, dass da irgendwo mal etwas gedreht worden ist, was man dann abends in Leute heute oder so in der „Glotze“ sehen konnte. Dass da ein Fernsehteam über den Bohlweg oder den Kohlmarkt gelaufen ist und einen befragt hat: Was halten Sie von der Gasumlage. Leute heute gab es damals natürlich noch nicht, aber das ist ja jetzt ganz egal. +++ Interessant an der Band Vulnerable Person übrigens ist gar nicht zuletzt, dass man den Namen gleich ob in Deutsch oder in Englisch aussprechen kann, wenn ich nicht irre – probieren Sie’s einfach mal aus! +++ Jedenfalls hatten wir kein Fernsehen, und Stars gab es in Braunschweig nur in dem Rahmen, wie ich höchstselbst einer war: Außerhalb der Grenzen der Löwenstadt, zum Beispiel in Gifhorn. Da erkannte einen niemand mehr auf der Straße, und unbehelligt konnte man sein an Ereignissen gar nicht so armes Dasein fristen. +++ Und jetzt war ich da mit dem Reisebüro Schmidt aus Wolfenbüttel also auf der ITB in Berlin, als Begleiter auf Schnupperkurs, sozusagen. Und eigentlich hatte mir niemand eine Aufgabe gegeben – außer, auf der Transitstrecke die Mitfahrenden durchzuzählen. Ziellos schlenderte ich über das Messegelände, und als dann da plötzlich an einer Ecke ein bisschen Trubel war und Scheinwerfer und so aufgebaut waren, da blieb ich ganz einfach stehen: So etwas hatte ich noch nicht gesehen, das übertraf alles, was ich bisher, äh, okay. +++ An dieser Stelle hier sollte jetzt wieder der Cliffhänger auftauchen, ich fände das gut!

 

Überschrift inspired by: Abends in der Hong-Kong-Bar © Vulnerable Person, 2022

Lyrics: Breaking Glass © David Bowie, 1977

Blinken am Horizont / Gruß aus Berlin.

Deep Fucking Postcards: Chinapfanne am Alex © Kai von Kröcher, 2018/2021

 

Vorn ein Fischerboot im Sonnenuntergang, du siehst mich blinken am Horizont.

 

Überschrift inspired by / Lyrics: Blinken am Horizont © Niels Frevert, 2011

Überschrift also inspired by: Gruß aus Berlin – fiktive Postkarten © Kai von Kröcher, 2021

Marga von Kröcher (* 15. August 1928; † 20. Juni 2016)

Kind of Blue / Traue keiner Statistik, die du nicht selber.

Der Kaffee ist fertig: Haus der Statistik © Kai von Kröcher, 2020

 

If the bottom drops out I hope that we share ground on this here island. +++ Manchmal muss man sich halt mal kurz fassen – eigentlich war mir heute den ganzen Vormittag was mit The Jesus and Mary Chain, Pille Palle und die Ötterpötter, den beiden Kneipen Zum Blauen Affen und, seinerzeit gegenüber, Zum Hammer durch den elenden Kopf geschwirrt. Und dann hätte ich gerne noch einen Bogen geschlagen zu Miles Davis und der Frage, ob man ein schlechter Mensch ist, nur weil man noch immer keinen Zugang zu dem gefunden hat. +++ Oder besser gesagt: weil man den nicht gesucht hat? +++ Das Foto heute hier, als da nach über dreißig Jahren im Vorbeifahren plötzlich die Tasse geleuchtet hatte. Und ich dann extra noch einmal vom Alexanderplatz die gottverlassene Otto-Braun-Straße zurückgelaufen, die Dämmerung legte sich müde auf realsozialistische Vorzeigemoderne. +++ Ein so unerwartet großartiger Augenblick, und dann dieses im ersten Moment so enttäuschende Bild (oben).

 

Überschrift inspired by: Kind of Blue © Miles Davis, 1959

Überschrift also inspired by: „Do not trust any statistics you did not fake yourself“ © (angeblich) Winston Churchill oder Goebbels (oder auch nicht), 40er Jahre

Bildunterschrift inspired by: Der Kaffee ist fertig © Peter Cornelius, 1980

Lyrics: This Here Islands © Dekker, 2019

Jimmy Cobb (* 20. Januar 1929 in Washington, D.C.; † 24. Mai 2020 in Manhattan, New York City), Schlagzeuger

Long Dong Xuan / Hitler and the Debbie Chain.

Corona Days: Otto-Braun-Straße © Kai von Kröcher, 2020

Lilienthalstraße, Anfang Mai (Stillleben) © Kai von Kröcher, 2020

 

Ich schiebe ihr eine Tasse zu und versuche dabei so auszusehen wie die Frauen, die mit ihren Freundinnen in den Frühstückscafés auf der Akazienstraße sitzen. +++ Oder lassen Sie mich anders beginnen: Vor ein paar Tagen. Das hört sich schon besser an, ein Anfang wie aus einem Buch. Vor ein paar Tagen nämlich, als ich Otto in die Geheimnisse des Zähneputzens einzuführen zu versuchen begann. Sagt man das so? Läuft jedenfalls noch nicht so besonders – aber wie dem auch sei, saugte mein schweifender Blick sich fest an dem Cremeseifenspender auf dem Waschbecken wie der Kuss einer Schlange. Ihnen vielleicht wurscht, aber ich machte in jenem Moment eine erstaunliche Entdeckung: Wenn man dem Substantiv Olive den Buchstaben R anhängt, ergibt das den männlichen Vornamen Oliver! +++ Inspiriert durch den Roman M fuhr ich dann Samstag am späteren Vorabend. Das dürfte plusminus so achtzehn Uhr etwa gewesen sein, die Bundesligakonferenz der Geisterspiele im Radio war längst schon vorbei. Da setzte ich mir meine Maske auf und stieg in die Straßenbahn in die Herzbergstraße nach Lichtenberg. Ein schöner Satz schlängelte sich mir auf der Fahrt durch den Kopf: „Das Dong Xuan Center ist ein Versprechen“, oder so ähnlich. „Ein Versprechen, das dich mit einer leeren Brötchentüte an einer Haltestelle sitzend zurücklässt.“ +++ Im Restaurant war es relativ übersichtlich, wie man so sagt; der einzige Ort, den ich mag. In einer der Ecken zwei junge Wuchtbrummen, regelrechte Maschinen: aufgekratzt-resolut, hatten sie es auf die zierlichen asiatischen Kellner abgesehen. Sextourismus in Zeiten Coronas – den Satz lasse ich mir patentieren. +++ Die Heimfahrt war unspektakulär, ich fühlte mich wenig systemrelevant. Die haushohe Kaffeetasse am Haus der Statistik leuchtete zum ersten Mal in meinem Leben. +++ Kurz noch zur Überschrift: Eine meiner liebsten Achtzigerjahrebands hatte ich erst Ende der Nullerjahre für mich entdeckt; lange Zeit dachte ich, ihr Name sei „Jesus and the Mary Chain“. +++ Neulich fragte ich Otto im Spaß: „Bist du Blondie?“ Er sah mich kurz an, dann nickte er…

 

Überschrift inspired by: Dong Xuan Center | Herzbergstraße | Berlin-Lichtenberg

Überschrift also inspired by: Long Dong Silver (* 1960 in London), britischer Pornodarsteller mit außergewöhnlich langem Penis

Überschrift also inspired by: Adolf Hitler (* 1989 in Braunau, Österreich-Ungarn; † 1945 in Berlin), Nationalsozialist

Blondi († 1945 in Berlin), Schäferhündin

Überschrift also inspired by: Fade Away and Radiate © Blondie, 1978

Till It Shines © The Jesus and Mary Chain, 1994

Textauszug aus: M (Roman) © Anna Gien/Marlene Stark, Matthes & Seitz Verlagsgesellschaft Berlin, 2019