Moon Safari / Ich bin zu Hause angekommen.

Kottbusser Tor: Gentlemen Take Polaroids © Otto G., 2024

 

Während ich ihm dicke Späne von den Fersen schabte, erzählte er mir nicht ohne Stolz Schnurren aus seinem Leben. Er hatte nichts gelernt, nie gearbeitet, aber seit Teenagerzeiten gesoffen wie ein Loch. In seiner Plattenbauwohnung hatte er vor sich hin vegetiert und – seit der Weg zum Bett vor lauter Müll unbegehbar geworden war – im Fernsehsessel übernachtet. +++ Ich habe mir eine Marotte zugelegt – sagt man das so? Neuerdings jedenfalls, immer wenn ich auf der Straße von einem Prominenten angesprochen werde – ich tue da jetzt immer so, als käme ich gerade nicht auf dessen Namen. +++ Wir schreiben das Jahr, warten Sie mal: Das Jahr 3747, und niemand erinnert sich noch, dass auch Hanjörg Felmy die Braunschweiger HvF besuchte – und selbst Burkhard Driest! Felmy natürlich nicht den lichtdurchfluteten, leichten 50er-Jahre-Nachkriegsbau der Aufbauzeit, denn Felmy war ja schon vor Kriegsbeginn mit seinen Eltern aus Berlin in die Löwenstadt gezogen und dann so lange auf die Hoffmann-von-Fallersleben-Schule gegangen, bis sie in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges dem Erdboden gleichgemacht worden war. +++ Insgeheim genoss ich es gestern, dass mir die Telekom zur Installation meines neuen Glasfaseranschlusses keinen Geringeren als Marco Rose vorbeischickte. Sehr angenehmer Mann. Als er meine persönlichen Daten in sein Tablett hackte, meinte er: „Oh, dann sind Sie ja auch bald dran!“ Ich kokettierte: „Wieder einmal.“ „Nehmen Sie’s leicht!“, meinte er: „Ich bin gerade im Januar auch sechzig geworden. Habe auf Usedom gefeiert – mit den Kindern und Enkeln.“ Ich hätte nicht vor zu feiern, meinte ich. Und dass er nicht aussehe wie sechzig. Das gebe er gerne zurück, sagte er. +++ Auch Driest war nur kurz in Braunschweig zur Schule gegangen, hatte aber sein (sehr gutes) Abitur auf der HvF gemacht. Der echte Marco Rose übrigens, und das war mir neu: Der echte Marco Rose ist 1976 in Leipzig geboren, hatte zwischenzeitlich sogar bei Lok Leipzig in der Abwehr gespielt. Dass er jetzt bei RB Leipzig auf der Trainerbank sitzt, ist sozusagen eine Art Football’s Coming Home. Schon 1970 in Leipzig kam Katja Oskamp zur Welt, der wir den heutigen Textauszug (oben) zu verdanken haben. +++ Ebenfalls nach Hause gekommen (Berlin) ist am Sonntag übrigens der Döner: Nach Einbruch der Blauen Stunde latschte ich vom Kottbusser Tor Richtung Kottbusser Brücke. Ich kam von Ottos Seepferdchen-Kurs in einer Schwimmhalle in Lichtenberg und fragte mich gerade, ob eigentlich auch die Leute um mich herum in der U-Bahn meinen intensiven Chlorgeruch wahrgenommen hatten. Da kam mir ein Transporter mit riesiger LED-Werbung entgegen: „Heute ab 14 Uhr – Meet & Greet mit Lukas Podolski!“ Direkt neben dem Netto-Markendiscount meines Vertrauens hat Poldi eine Dönerbude aufgemacht, das hatte ich dann wohl verpasst. Poldi sagt (ungefähr), dem Döner müsse (preislich) mehr Wertschätzung entgegengebracht werden, das finde ich grundsätzlich richtig. +++ Am Tage vor Poldis Eröffnung hatte mein Sohn wieder auf einen Ausflug gedrängt, eine Art urbaner Fotosafari: Ich liebe die Begeisterung, mit der er die Welt durch seine Kamera betrachtet. +++ Seit dem vorigen Post ist hier die Schrift irgendwie merkwürdig anders geworden – hat denn da einer dran rumgefummelt?!

 

Überschrift inspired by: Moon Safari © Air, 1998

Überschrift also inspired by: Zuhause angekommen © König Boris, 2024

Bildunterschrift inspired by: Gentlemen Take Polaroids © Japan, 1980

Textauszug aus: Marzahn, mon amour – Geschichten einer Fußpflegerin (Kurzgeschichten) © Katja Oskamp, 2019

Hansjörg Felmy (* 31. Januar 1931 in Berlin; † 24. August 2007 in Eching), dt. Theater- und Filmschauspieler, Synchronsprecher

Burkhard Driest (* 28. April 1939 in Stettin; † 27. Februar 2020 in Berlin), dt. Autor, Schaupieler, Regisseur, Produzent

Marco Rose (* 11. September 1976 in Leipzig), dt. Fußballspieler und -trainer

Three Lions © The Lightning Seeds, 1996

Katja Oskamp (* 20. Februar 1970 in Leipzig), dt. Schriftstellerin, Dramaturgin und Fußpflegerin

Lukas Podolski (* 4. Juni 1985 in Gliwice, Polen), dt.-polnischer Fußballspieler

Ich bin Toni Krahl / Last-Minute-Geschenke von Amazon.

Deep Fuck Records: Treffer Hornbach – du gehst noch mal weg (Virgin) © Kai von Kröcher, 2021

 

Wo die ganzen alten Häuser waren. Neues Graffiti an den Wänden. Und die Hortensien blühen weiter. +++ Zum Jahresende werden überall gerne Lieblingslisten gesammelt, Sie wissen es. Und mein vielleicht liebstes Lied 2021 stammt wahrscheinlich noch immer von Zweitausendzwanzig. +++ „Ich bin Toni Krahl“ – ein Satz wie ein Peitschenhieb, das hat mich bis heute nachhaltig beeindruckt: Als wäre ich heimlicher Gast damals eines verbotenen Kultes gewesen. Eine versunkene Welt – davon wollen Sie gar nichts wissen. +++ Apropos: War es in diesem Jahr, diesem Sommer – oder ist es ebenfalls schon 2020 gewesen? Im Laufe Coronas verliert man trotz Google Earth ab und dann und wann seinen Bezug zu Raum und Zeit. +++ Und wie heißt EU-Ratspräsident Michel eigentlich mit Nachnamen? +++ Jedenfalls war das in diesem oder im vorigen Frühsommer wahrscheinlich. Es war schon angenehm warm, T-Shirt-Wetter. Ich setzte mich irgendwo in die S-Bahn und fuhr, getrieben von meinem Lieblingssong. Ich fuhr bis Karlshorst. Es war gerade ein neuer Lockdown beschlossen – nach neun, zehn, elf Uhr mussten auch alle Spätis geschlossen sein. Und so sprang ich Karlshorst von der Bahn, holte an einem Döner-Kebab-Imbiss unten am Bahnhof ein Bier – und in der einsetzenden Abenddämmerung ließ ich mich die verlassene Trabrennbahn entlang mäandern. +++ Eigentlich soll man die Bilder seiner Kinder nicht in den sozialen Netzwerken verbreiten, da geh ich mit Ihnen durchaus d’accord. Der mystische Schnappschuss auf der Plattenhülle (oben) aber darf meiner Ansicht nach Ausnahme der Regel sein: Mein Sohn Otto und ich auf dem Heimweg von Kai Heimbergs Ausstellungseröffnung im Schaufenster Lobeckstraße neulich (Ihr seid solche Fucker berichtete). Ich hatte vergessen, zu fotografieren, und hier jetzt am Planufer, mein Sohn auf seinem hellblauen Puky-Laufrad vor mir fuhr gut gelaunt in die Nacht. Ein magischer Augenblick, den wollte ich der geifernden Fratze des Vergessens nicht übereignen – ich nahm die Kamera in die Hüfte und drückte kaltblütig ab.

 

Überschrift inspired by: Toni Krahl (* 3. Oktober 1949 in Berlin), dt. Musiker

Überschrift also inspired by: Last-Minute-Geschenke von Amazon © Amazon, 2021

Lyrics: Karlshorst © Sind, 2020

Michel (* 21. Dezember 1975 in Namur), belgischer Politiker und seit 1. Dezember 2019 Präsident des Europäischen Rates

Trevor Charles Horn (* 15. Juli 1949 in Durham), englischer Produzent, Musiker und Komponist, Träger des britischen Ritterordens

Moments in Love © The Art of Noise, 1985