Nachtzug nach Nischni Nowgorod / Reiseziel Mond.

Fiktives Vinyl | Facility – Müde und deprimiert © Kai von Kröcher, 2014/2022

 

Früher drehten die Elektrorocker ihre Verstärker auf: Jede Menge Phon, bis zur Ohramputation – und schließlich stand kein Mensch mehr drauf. +++ Die Plattencover der Gruppe Facility gehören sicherlich zum Feinsten, was uns das Popbusiness weit und breit bereitzustellen vermag. Die Songs dagegen eher belanglos: gesichtsblasser Weltuntergangs-Funk deutscher Provenienz – wahrscheinlich steht kein Mensch mehr drauf. +++ Beim Abendbrot gestern schlug mein Sohn vor, wir könnten doch mit dem Flugzeug mal in den Libanon – ich bin da noch unschlüssig. +++ Was ist eigentlich ein Snippet? Ich soll das endlich bearbeiten – und eine Metabeschreibung einrichten, fordert das Internet. +++ Aber das Cover (oben) ist wirklich toll…

 

Überschrift inspired by: Nachtzug nach Nischni Nowgorod © Tibor Weitling, 2022

Überschrift also inspired by: Tim und Struppi – Reiseziel Mond (TintinObjectif Lune) © Hergé, 1953

Lyrics: Elli Pyrelli © Udo Lindenberg & das Panikorchester, 1975

The Lebanon © The Human League, 1984

Alpina Weiß / Schau in den Lauf, Hase.

Fiktives Vinyl: Eloise Golodkowski – Ich habe so vieles geahnt © Kai von Kröcher, 2013/2022

 

Ein kleines Zeichen auf deinem Handgelenk, dein neues Tattoo: Bitte sag mir, dass da nicht Carpe Diem steht. +++ Ich könnte jetzt googeln, aber es gibt doch, wenn man da unten von Karlsbad reinkommt. Thüringen oder Sachsen. Da gibt es doch einen Ort, der ist nach dem Kosmonauten Jähn benannt, Sigmund Jähn – war das nicht Jänschwalde? +++ Und wo wir gerade schon dabei sind: Was ist eigentlich aus meiner Anregung geworden, Bolsonaro einen Lauf in den Rachen zu drücken? Man sollte das Thema nicht auf die lange Bank schieben, ich sag es ja nur. +++ Zur Sicherheit habe ich die Sache jetzt mal gegoogelt, ich muss da wohl etwas durcheinandergebracht haben: Zwar gibt es (natürlich) einen Ort, in dem Sigmund Jähn zur Welt gekommen ist – aber anscheinend doch keinen, der nach ihm benannt ist. In einigen Gemeinden ist Jähn wenigstens Ehrenbürger; Straßen, Schulen und sogar Schiffe sind nach ihm benannt. Es war in der DDR damals übrigens von den Medien nicht darüber berichtet worden, dass Jähn kurz vor dem Start seines Raumfluges ein Enkel geboren war: Die Großvaterrolle habe nicht zu dem Image des verwegenen Weltraumhelden gepasst, heißt es bei Wikipedia. +++ Wahrscheinlich ist es für Sie jetzt ein Schock, aber die Musikgruppen und Stars auf den fiktiven Schallplattenhüllen sind alle ausgedacht, das heißt, es gibt sie in Wirklichkeit nicht. Deshalb trägt die Serie den Titel Fiktives Vinyl – „fiktiv“ nämlich in etwa bedeutet so viel wie „das stimmt nicht“.

 

Überschrift inspired by/Lyrics: Alpina Weiß © SIND, 2017

Überschrift also inspired by: Schau in den Lauf, Hase © Die Höchste Eisenbahn, 2013

Sigmund Jähn (* 13. Februar 1937 in Morgenröthe-Rautenkranz; † 21. Septemberg 2019 in Strausberg), erster Deutscher im Weltall

Eloise © Barry Ryan, 1968

Karlovy Vary (deutsch: Karlsbad), Kurort im Westen der Tschechoslowakei

Jair Messias Bolsonaro (* 21. März 1955 in Glicério/São Paulo), Präsident Brasiliens

Schwermütige Wasser / Der Sonne ist es egal, ob wir Grünkernbratlinge essen.

Fiktives Vinyl | Alois Weidel – Stille Wasser © Kai von Kröcher, 2014/2022

 

Should I give up or should I just keep chasin‘ pavements even if it leads nowhere. +++ Das war ja gar nicht die Alice, das mit der Sonne, das war ja die Storch – Beatrix von Storch: Eines meiner weltliebsten Zitate, das mit den Bratlingen, eine wunderbare Person! +++ Haha, manche Leute haben natürlich ganz andere Sorgen, als sich über Klimazusammenhänge Gedanken machen zu können. Da haben sich einige Geschichtchen angesammelt in den vergangenen Monaten. Eine davon fand ich damals so super, ich habe sie noch niemandem erzählt. +++ Angespornt durch meinen Schrittzähler, es könnte in etwa so Mitte Juni gewesen sein. Jedenfalls, es ging gegen Abend, die Schatten wurden schon länger, das Licht färbte sich golden. Ich kam zu Fuß vom Alexanderplatz, Berlin-Alexanderplatz. +++ Ich will jetzt nicht jeden einzelnen Schritt beschreiben, es waren zehntausende, doch zog es mich langsam die Karl-Marx-Allee entlang Richtung Osten. Ich kam gerade am Strausberger Platz an, vor dem linken der zwei stalinistischen Torhäuser gen Westen. An einer Parkbank tauchte ein kleiner Typ auf. Hatte ein blauweiß gestreiftes Fußballtrikot an, aber nicht Hertha – Motor Jänschwalde vielleicht. +++ Kurze Unterbrechung. +++ Der kleine Typ hätte mich nicht weiter interessiert, wäre er mir nicht wie eine Art Springteufel aufgeregt fuchtelnd ins Bild gestolpert. Er warf sich gerade eine Tasche über die Schulter, war dabei, loszurennen – und rief begeistert etwas von einem Ständer. Verstehen Sie? Den Anfang hatte ich nicht mitbekommen, aber jetzt wurde ich aufmerksam. Ein Wortfetzen: „… ’n Ständer!“ – er hatte zum Himmel gezeigt oder zu den oberen Stockwerken: „Los, hoch – ficken!“ +++ Diesen Ausdruck hatten wir neulich hier schon. +++ Erst jetzt fiel mir die wankende Frau auf, die langsam sich aufrappelte. Noch einen Schluck aus dem Flachmann nahm und ihm schwerfällig hinterher trottete. +++ Okay. +++ Vielleicht doch eher wieder Situationskomik, jedenfalls wollte ich die Angelegenheit etwas genauer unter die Lupe nehmen. Ich folgte den beiden unauffällig, was nicht sehr schwierig war – waren sie doch extrem mit sich selbst beschäftigt, brüllten sich an, schlugen sich. Verloren das eigentliche Ziel aber nicht aus den Augen, das musste man ihnen anrechnen. +++ Um das hier jetzt abzukürzen, wo die Geschichte doch nicht so witzig ist wie gedacht: Der Typ wohnte anscheinend gar nicht mal so in der Nähe, und ich fragte mich, ob er das mit dem Ständer über die Zeit retten würde. Ecke Friedenstraße, kurz vor der Grenze zu Polen, kleiner Scherz. Ecke Friedenstraße ließ ich sie ziehen und ging meiner eigenen Wege. Ich stellte mir seine Bude vor, ein ungelüftetes dunkles Loch mit überquillendem Ascher. Vielleicht aber alles ganz anders. Ich kam dann noch an einer Kirche vorbei, die mir vorher nie aufgefallen war.

 

Überschrift inspired by: Septemberwind (Les Champs-Élysées) © Joe Dassin, 1975

Überschrift also inspired by: Beatrix von Storch (* 21. Mai 1971 in Lübeck), dt. Politikerin

Lyrics: Chasing Pavements © Adele, 2008

Familie Leroc / Fatigue de l’été.

Fiktives Vinyl: Familie Leroc – Sexenklaven © Kai von Kröcher, 2013/2022

 

Tout le temps ça revient, fatigue de l’été. +++ Hatte man Adenauer damals eigentlich „der Alte“ genannt, weil er ein ganz besonders ausgekochter Hund gewesen ist – oder einfach nur, weil er alt war? Macht ja vielleicht einen Unterschied. +++ Gestern jedenfalls war mein Internet plötzlich kaputt. Ich mache nämlich mit bei der Aktion Strom sparen gegen Le Putin, und da hatte ich beim Zubettgehen am Abend vorher im Dunkeln den falschen Stecker am Modem herausgezogen – und dabei die Buchse geschrotet, ein Begriff aus der Landwirtschaft. Direkt heute früh standen zwei überaus freundliche Techniker mit neuer Fritz!-Box vor der Tür, das ging mal fix – man sitzt ja sonst schnell auf dem Trockenen. +++ Sonntag haben wir das dann noch einmal probiert, das mit dem Zollstock: Otto kam jetzt auf kultige 99,8 cm – hinterher aber stellten wir fest, ich hatte die Wasserwaage schief gehalten, das Resultat ist offiziell leider anfechtbar. +++ Wegen Adenauer jetzt noch mal: Der Typ in der Jever-Werbung hatte natürlich nicht von Experimenten gesprochen – Kompromisse hatte er gemeint, das fiel mir dann später erst auf! +++ Vor einiger Zeit hatte ich mir mal Funk-Kopfhörer gekauft, so ultramoderne Teile im Hörgerät-Look. Und jetzt, wo das Internet nicht mehr ging, klemmte ich mein Laptop unter den Arm und setzte mich an den Landwehrkanal. Auf die Wellen geschaut und Fatigue de l’été aufgelegt in Dauerschleife: Ein exquisites Erlebnis, hypnotisierend, mach‘ ich sonst nie – und dabei liebe ich den Geruch von schwermütigem Wasser! +++ Bei der Familie Leroc übrigens handelt es sich streng genommen um keine Familie – die drei Musiker sind letzten Herbst erst aus Norddeutschland zugezogen und bewohnen jetzt eine Art Künstler-WG oben in Pankow, Greta-Garbo-Straße, Hausnummer mir nicht bekannt. +++ Aber was, bitte schön, sollen denn Sexen-Sklaven sein?! +++ Kennen Sie noch den Club der polnischen Versager? Scheint allerdings umgezogen, war früher ja mal an der Torstraße, wenn ich das nicht geträumt habe: Interhotel (Fatigue de l’été/Anm.d.Red.) jedenfalls sollen da spielen am übernächsten Samstag um zwanzig Uhr, Ackerstraße 169 im Berliner Bezirk Mitte. Gemeinsam mit einem Duo, das sich Lilian & Manzur nennt – seltsamer Name für eine Band…

 

Überschrift inspired by: Sexenklaven © Familie Leroc, 2022

Überschrift also inspired by/Lyrics: Fatigue de l’été © Interhotel, 2021

Lilian & Manzur feat. Interhotel | Club der polnischen Versager | Ackerstr. 169 | Berlin-Mitte | Sa., 23. Juli | 20:00 Uhr

„Wie das Land, so das Jever.“

Neunundneunzig Zentimeter / River Deep, Mountain High.

Fiktives Vinyl: Jürgen Stalin – Die Bestie zum Schluss © Manuela Steinemann (Foto), 2012 / Kai von Kröcher (Artwork), 2022

 

Du kannst nicht schlafen, die Straße rauscht wie ein Meer: die letzte Telefonzelle, bis ein Betrunkener reinfährt. +++ Die Erwartungen waren hoch, das lässt sich nicht kleinreden – doch jetzt ist er wieder da: Jürgen Stalin mit seinem neuen Longplayer, gut gelaunter denn je! +++ Vor ein paar Tagen gerade hatte ich an Zip Schlitzer denken müssen, komisch, ich kannte den ja gar nicht: Irgendwann nachts war er im Club aufgetaucht, hatte sich still und sympathisch an den Tresen gesetzt und gemeint, ich müsse das Bier teurer machen, sonst käme ich nicht über die Runden. Komische Einstellung für einen Punk, dachte ich. Aber vielleicht ist das die grundsätzliche Philosophie hinter Punk: niemand soll auf der Strecke bleiben. +++ Nein, die Typografie bei Jürgen Stalin heute ist nicht die gleiche wie gestern die bei Ilse Paradies, das sieht nur so aus. +++ Dass er Punk gewesen sein könnte, hatte ich nicht gewusst, vielleicht war er’s ja nicht. Auch nicht, dass er Zip Schlitzer war, da hatte Marco sich dann hinterher erst verschwörerisch zu mir rüber gebeugt und gesagt: „Das war ja Zip Schlitzer!“ Und Terrorgruppe seien einer der Gründe gewesen, weshalb er (Marco/Anm.d.Red.) seine Jugend in der DDR überhaupt habe ertragen können. Oder so ähnlich, ist ja schon Jahre her. +++ Mein Sohn dürfte dieser Tage irgendwann, oder besser gesagt: Ziemlich oft stelle ich ihn an den Türrahmen und mache einen Strich mit dem Bleistift – über 97 cm waren wir bisher nicht hinausgekommen. +++ Von Terrorgruppe hatte es da nämlich wohl so einen Song gegeben, die Kellnerin im POWWOW hatte das in den Neunzigern einmal kreischend nachgesungen. Die, die sich manchmal an den Tresen gestellt und „Ficken!“ gebrüllt hat – und von manchen Gästen hinter vorgehaltener Hand deshalb immer „Ficken“ genannt worden war: „Neunundneunzig Zentimeter, einer mehr, dann wär’s ein Meter!“ Darüber hatte Ficken sich gar nicht mehr eingekriegt. +++ Jürgen Stalin auf dem Plattencover (oben) sieht überdurchschnittlich zufrieden aus: Ein Endvierziger, der fast alles erreicht hat. Mit der Lieblingsfotografin zusammen die Kanzelwand rauf in der Seilbahn, und oben sich dann einfach mal rückwärts ins Gras fallen lassen – wie der Typ in der Jever-Werbung seinerzeit: Kein Stress, keine Experimente! +++ Zip Schlitzer war danach eine zeitlang immer mal wieder spät abends aufgetaucht, feiner Mensch irgendwie – und wohl auch ein sehr guter Bassist. Gestern schrieb jemand bei Facebook, Zip Schlitzer ist tot – ein Jahr älter war er als ich.

 

Überschrift inspired by: irgendwas von Terrorgruppe (Ficken-Version)

Überschrift also inspired by: River Deep – Mountain High © Ike & Tina Turner, 1966

Lyrics: Gierig © Die Höchste Eisenbahn, 2016

Powwow | Dieffenbachstr. 11 | 10967 Berlin (ca. 1993 – 2020)

Alltagshysterie / Verwunschene Orte.

Fiktives Vinyl: Ilse Paradies – Alltagshysterie © Kai von Kröcher, 2013/2022

 

Torn between two lovers, feeling like a fool – loving both of you is breaking all the rules. +++ Falls Sie, wie mein Sohn. +++ Falls es Ihnen also auch unter den Nägeln brennt, in welcher Region genau sich das Café Miami versteckt hält, dieser verwunschene Ort aus dem gleichnamigen SIND-Song: Die Gaststätte finden Sie in Otterwisch in Sachsen, einem Nachbardorf von Hainichen. Näher dran also an Leipzig als an Dresden, auf eine Art aber irgendwie auch dazwischen. +++ Wie in dem Song von Mary MacGregor vielleicht (oben), den würde ich gerne mal wieder hören: Muss so die Zeit erster Verliebtheiten gewesen sein – siebte Klasse damals, lief sicherlich auf den Schulparties. +++ Apropöchen ‚Verwunschene Orte‘: Die Hülle des neuen Albums von Ilse Paradies ziert nichts Geringeres als eine Ortschaft im Wolfsburger Land, der Name allerdings darf aus Datenschutzgründen hier nicht genannt werden. +++ Das Beste zum Schluss: Fürs Wochenende ist eine weitere Veröffentlichung Jürgen Stalins angekündigt – wegen der russischen Spezialoperation hatte der Termin sich mehrfach verschoben.

 

Überschrift inspired by: Alltagshysterie © Ilse Paradies, 2022

Überschrift also inspired by: Café Miami | Hauptstraße 1 | 04668 Otterwisch

Lyrics: Torn Between Two Lovers © Mary MacGregor, 1976

Café Miami © SIND, 2021

Merkwürdiges Viertel / Songs für gesetzlich Versicherte.

Fiktives Vinyl: DJ Freizeitangebot – … wie ein Hund © Kai von Kröcher, 2017/2022

 

Fiktives Vinyl: Stromsperre – Songs für gesetzlich Versicherte © Kai von Kröcher, 2020/2021/2022

 

Nach der Ebbe ging’s dir gut, hier an der Nordsee – nur, wie alle wird’s dich zieh’n: ein neues Leben in Berlin. +++ Was Sie wahrscheinlich nicht wussten: die Inspiration zu DJ Freizeitangebot liegt schon ein paar Jahre zurück, sagt man das so? 2012, ein Vorort von München: privates Gespräch über das tolle Radwegenetz im Emsland. +++ Mein Sohn fragte mich gestern, wo denn das eigentlich sei, dieses Café Miami. Hatte der Papa wohl wieder zu viel gesungen. Sachsen, sagte ich – irgendwo bei Leipzig oder Dresden, das sagte ihm aber nichts. +++ Die Plattenhülle der Band Stromsperre könnte Ihnen bekannt vorkommen – es war, da müsste ich nachschauen. +++ 2017 entstand, hart am Rande des Märkischen Viertels, das Coverfoto zum DJ-Freizeitangebot-Album … wie ein Hund.

 

Überschrift inspired by: Märkisches Viertel – Großwohnsiedlung in Berlin-Reinickendorf aus den Jahren 1963 bis 1974 (ca. 40.000 Einwohner)

Überschrift also inspired by: Songs für gesetzlich Versicherte © Stromsperre, 2022

Lyrics: Nordsee © SIND, 2022

Café Miami © SIND, 2021

How Much Is Art Really Worth / Liliputaner im Katerkostüm.

Fiktives Vinyl: Die Band Busen – Alle Zeit der Welt für alles © Kai von Kröcher, 2016/2022

 

The very thing you’re best at is the thing that hurts the most. +++ Neulich fiel mir eine Geschichte wieder ein, an die habe ich ewig nicht mehr gedacht. Wo ich mich regelrecht schlappgelacht habe, damals, völlig hysterisch geworden. Situationskomik nennt man das wohl. Wo, wenn man es später erzählt, kein anderer sonst lachen muss, nicht mal hysterisch wird. Weil es am Ende nicht lustig ist. Irgendwann in den Neunzigerjahren muss das gewesen sein. +++ Wie gefällt Ihnen die Platte oben? Ich dachte, ich bringe heute mal etwas, wo Sie nicht einfach so dran vorbeigehen können, Mund abputzen und weiter. Was richtig Sexistisches, kalkulierter Skandal. +++ Also, die Geschichte war so: Ich saß in der U-Bahn, das muss in den Neunzigern gewesen sein irgendwann. Damals gab es noch keine Smartphones, die Leute starrten noch stumpf in ihre Zeitung. Muss eine längere Fahrt gewesen sein, weiß ich nicht mehr. Neben mir saß eine Frau, Hausfrau vermutlich. Das wird man doch wohl noch sagen dürfen, ich weiß es ja selber nicht. Schon nicht mehr ganz jung, las das Goldene Blatt. Vielleicht auch die Neue Revue. Für uns aus dem Underground eh eine Soße. +++ Mein Sohn ist ja übrigens ein guter Beobachter, aufmerksamer Zuhörer. Hat er vom Vater. Letztens im Hintergrund lief das Radio. Plötzlich meinte er: „Papa, wollen wir nicht mal nach Russland fahren?“ Ich fand das super, dieses über den Tellerrand schauen. Andere Kids in dem Alter würden wahrscheinlich sagen: „Papa, kauf mir Playmobil!“ +++ Jedenfalls, weil die Fahrt anscheinend so lange dauerte, warf ich einen verstohlenen Blick in das Goldene Blatt meiner Nachbarin. Das ist jetzt nicht einfach zu erklären, aber es war eine Geschichte über Tony Marshall und seine Familie. Vielleicht etwas Tragisches, das weiß ich nicht mehr. Kann sein. Ich möchte mich aber nicht über Tony Marshall lustig machen, Tony Marshall ist schon okay. Weil die Fahrt jedenfalls so lange dauerte, und meine Sitznachbarin klebte auch wie gebannt an der Geschichte – jedenfalls las ich mir alles durch, und dann war da über die ganze Seite dieses Foto abgedruckt, da sieht man Tony Marshall mit seiner ganzen Familie, posiert für die Kamera. Auf einem Rummelplatz oder so. Und dann haben sie noch einen mit in ihre Mitte genommen, einen Liliputaner im Katerkostüm. Dem legen sie gut gelaunt alle einen Arm auf die Schulter und smilen sich einen ab. Ganz genau weiß ich das nicht mehr, war ja schon in den Neunzigern. +++ Also, okay: Foto von Tony Marschall mit Familie plus Liliputaner im Katerkostüm. Und die Bildunterschrift unten drunter, und da hat es mich weggehauen. Die Bildunterschrift lautete: „Tony Marshall mit seiner Familie und ein Liliputaner im Katerkostüm“.

 

Überschrift inspired by/Lyrics: King © Florence + the Machine, 2022

Überschrift also inspired by: Schöne Maid © Tony Marshall, 1971 (nach einem neuseeländischen Volkslied)

Tony Marshall (* 3. Februar 1938 in Baden-Baden als Herbert Anton Bloeth), Schlagersänger und Ehrenbürger von Bora-Bora

Oliver Kahn (* 15. Juni 1969 in Karlsruhe), deutscher Fußballtorwart, Fernsehkommentator und Fußballfunktionär, Titan

How To Become Famous / Childhood Living Is Easy To Do.

Fiktives Vinyl: Urs Liebenaar – Ein Sommer mit dem Ku-Klux-Klan © Kai von Kröcher, 2006/2022

 

We argue in the kitchen about whether to have children, about the world ending. +++ Wegen der umwerfenden Resonanz auf den gestrigen Post habe ich endgültig wieder Blut geleckt. Und es macht ja auch Spaß. Kostet halt unendlich viel Zeit und spült nicht den müdesten Pfennig in die löchrigen Taschen. Bringt aber Fame, und das ist die Hauptsache. +++ Ich weiß nicht, ob Sie von Urs Liebenaar schon gehört haben, dem Sänger – das Coverfoto seiner LP Ein Sommer mit dem Ku-Klux-Klan war kurz nach der WM 2006 damals entstanden, da war mir eine Übernachtung im 18. Stock des Hotel Neptun in Warnemünde geschenkt worden. +++ Toll, dass es so etwas noch gibt. +++ Ist Fame tatsächlich die Hauptsache – und wie kommt man an ihn ran? +++ Als notorisch-gelegentlicher Radiohörer schaltete ich heute Mittag etwas verschlafen den Empfänger ein – mitten hinein in die neueste Auskopplung von Florence + the Machine. Und was mir in den letzten Jahren gar nicht bis selten passiert ist: von den Fingerspitzen bis in den Nackenansatz zog sich spontan ein elender Gänsehautschauer, das werden Sie albern finden. +++ Die erste Single von denen damals, irgendetwas mit einem Faustschlag ins Gesicht oder so, die erste Single. Fand ich noch ziemlich doof. Und Jahre später irgendwann, da sah ich ein Video, das müsste ich erstmal kurz googeln. +++ Wild Horses ist das gewesen, live im London Stadium auf der No Filter-Tour der Rolling Stones 2018: Florence + the Machine scheinen dort Vorband gewesen zu sein – und später, während des Hauptacts, da holte Mick Jagger die Welch (Florence Welch, Sängerin von Florence + the Machine/Anm.d.Red.) zu einem Duett auf die Bühne. Anfangs wirkte sie etwas nervös, und in den Kommentaren ziemlich weit unten bei Youtube hatte dann einer geschrieben, Florence habe den Song gekillt oder so, also auf Englisch – und ich dachte verunsichert: ‚Na, sooo schlecht war sie nun auch wieder nicht!‘ +++ Um den Witz jetzt zu erklären: Sie haut einen mit dem ersten Ton schon annähernd vom Stuhl, und das mit dem Killen muss auf Englisch in etwa wohl so viel bedeuten, als dass sie einen mit dem ersten Ton schon annähernd vom Stuhl haut. +++ Den mit Abstand aber wahrscheinlich süßesten Gastauftritt aller Zeiten habe ich (im Video) mal gesehen, wo der große Jack White bei und mit den Rolling Stones zusammen Loving Cup performt – und aussieht wie der kleine Junge, der am liebsten auf der Stelle platzen und losschreien würde vor Glück. +++ Weihnachten und Ostern auf einen Tag. +++ Das hat doch mit Rock’n’Roll nichts mehr zu tun?!

 

Überschrift inspired by: When Will I Be Famous © Bros, 1987

Überschrift also inspired by: Wild Horses © The Rolling Stones, 1971

Lyrics: King © Florence + the Machine, 2022

Kiss With A Fist © Florence + the Machine, 2008

Loving Cup © The Rolling Stones, 1972

Seven Nation Army © The White Stripes, 2003

From the Safest Places Come the Bravest Words / Nachtzug nach Nischni Nowgorod.

Fiktives Vinyl: Tibor Weitling – Nachtzug nach Nischni Nowgorod © Kai von Kröcher, 2007/2022

 

Jahre zieh’n wie ein Film vorüber im Café Miami. +++ Um es kurz zu machen, mein Plan war ein anderer gewesen: Wie Johnny Cash bis an sein Lebensende nur schwarze Anziehsachen trug, so hatte ich nach dem 24. Februar nichts mehr gepostet. Auch jetzt fühle ich mich nicht berufen, von meinem Sofa aus kluge Einschätzungen über einen Krieg abzugeben, den ich nicht nachempfinden kann. Weil ich ein gefühlsarmer Sack bin. Weil ich Krieg zum Glück nie aus der Nähe kennengelernt habe. Weder Osteuropa-Experte noch Militärstratege bin. Auch von Politik nur peripher eine Ahnung habe. Andererseits hätte ich es aber auch als zynisch empfunden, den Krieg einfach unkommentiert zu lassen, ihn nicht zu erwähnen und stoisch weiter meine putzigen Geschichtchen zu posten. +++ Zwischenzeitlich habe ich dann beobachtet, dass ich innerlich jeden abgeschossenen russischen Panzer zu bejubeln begann, als wäre der ganze Horror ein Fußballspiel – das fand ich dann irgendwie auch irritierend. +++ Gleichzeitig genoss ich es still und heimlich, nicht zwanghaft ständig irgendeine Sülze posten zu müssen, was mich seit Jahren eh keinen Schritt von der Stelle gebracht hatte. +++ Gestern in den unendlichen Weiten der brandenburgischen Kiefer aber, einem zwanglosen Stelldichein führender Medienvertreter, Künstler der verschiedensten Disziplinen und Jungs aus dem Showbiz. Da fiel gegen Ende – wie einst Tom Sawyer und Huckleberry Finn hatten wir längst ein paar gemeinsame Bahnen durch den Dahme-Umflutkanal gezogen. Da plötzlich fiel einem die Frage ein, warum ich denn so lange nichts mehr gepostet habe. Pipapo, sagte ich – Ukraine und so. Dieses und jenes, ich habe es Ihnen ja oben zusammengefasst. +++ Aus dem einen Dilemma ins nächste: Café Miami der guten Berliner Gruppe SIND scheint wohl eine Momentaufnahme der Corona-Zeit gewesen. Ich hatte den Song erst kennengelernt, als die Pandemie schon zu Ende war, die nächste Katastrophe längst im Gange. Sehr schönes Video, sehr schöner Song! +++ To cut a long story short: mein Bild heute stammt aus der Serie Die einhundert besten Langspielplatten der Welt und heißt Nachtzug nach Nischni Nowgorod.

 

Überschift inspired by: A New Dark Age © The Sound, 1981

Überschrift also inspired by: Nachtzug nach Nischni Nowgorod © Tibor Weitling, 2022

Lyrics: Café Miami © Sind, 2021

Sonderoperation zur Entstaatlichung der Ukraine

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (Fernsehvierteiler nach Romanen von Mark Twain) © ZDF, BRD/F/RO 1968

To Cut a Long Story Short © Spandau Ballet, 1980