Damien / New York Mining Disaster 1941.

 

Fiktives Vinyl: Damien – Auf die Gier folgt die Panik © Kai von Kröcher, 2013/2022

 

You’re all that’s left to hold on to, I’m still waiting. +++ Die Jüngeren unter uns werden sich nicht mehr erinnern, aber heute vor exakt neunundfünfzig Jahren fand etwas statt – und „stattfinden“ ist dabei der denkbar falscheste Ausdruck. Ein halbes Jahr ziemlich genau vor meiner Geburt, und beinahe vom Feeling her fühlt es sich an, als hätte ich die Bilder von damals noch immer in mir. +++ Das Cover (oben) hatten wir irgendwann hier schon einmal, doch drückt es die Stimmung von damals aus wie kein zweites. Unsere Gegend war ja nun eher ein Land, das von der Landwirtschaft lebt: Ackerbau, Automobilbau, das waren die Säulen. Sägewerke zum Beispiel gab es im Umkreis auch, obwohl man „wald“ bei uns nicht einmal groß schrieb. Wenige Kilometer südlich, wenn man hier außerhalb des Bildes scharf links an der Schmiede vorbei in den Engelnstedter Weg einbiegt, da gab es die Reichswerke Hermann Göring, die wurden tatsächlich immer noch so genannt. Im Rücken des Fotografen liegt nächtlich-verlassen der Sportplatz, hier habe ich tausende von Nachmittagsstunden akribisch verkickt. Und wenn man nicht abbiegt, der Straße stattdessen nach links weiter folgt, die Ortschaft nach Westen verlässt – in ungefähr fünf Minuten mit dem Auto ist man in Lengede. +++ Sogar in Berlin gibt es – das muss da in Reinickendorf irgendwo sein, oberhalb vom Kurt-Schumacher-Platz. Da gibt es eine Lengeder Straße, das hatte im Zufall mich einmal erstaunt: Lengede hat ja nun gerade einmal vielleicht 5.000 Einwohner und liegt 250 Kilometer westlich von Reinickendorf im flachesten Niedersachsen. +++ Lengede war Bergbau, früher jedenfalls, obwohl es bei uns keine Berge gab – und heute vor 59 Jahren stürzte der Schacht Mathilde ein. Es gab viele Tote, es gab aber auch eine dramatische Rettungsaktion, die sich über Tage hinzog und weltweit verfolgt worden ist – ein paar wenige Bergleute hatten sich in einer Luftblase vor einflutenden Wassermassen gerettet, die haben darin überlebt. Wurden unterirdisch geortet. Und schließlich gerettet. +++ Verfilmt worden ist Das Wunder von Lengede später mit Heike Makatsch und Nadia Uhl. Heino Ferch – und ich glaube auch Jan Josef Liefers. Katharina Wackernagel und dem mürrisch dreinblickenden Georg-Maria Halmer (?) als mürrischem Grubenchef oder so. Insgesamt super besetzt. Ich erinnere mich, auch die Requisite muss ganz tolle Arbeit geleistet haben – im Film trinken da alle das originale Wolters Pilsener in den originalen Flaschen von damals, man kann die Zeit förmlich schmecken. +++ An genau diesem Tag, als der Schacht Mathilde einstürzte und einen ganzen Landstrich in die Verzweifelung riss. Genau an diesem Tag nämlich, einige tausend Kilometer weiter östlich im fernen Kirgisien (Kirgisistan/Anm.d.Red.) – im finsteren Reich der Finsternis – erblickte mein Kumpel der Russe das Licht der Welt. Auch wenn er diese Zeilen hier wahrscheinlich eher nicht lesen wird, möchte ich ihm auf diesem etwas verschlungenen Wege doch alles Gute wünschen. Weil wir uns so selten nur sehen – und wenn wir uns sehen, weil wir dann immer denken, ach schade, dass wir uns so selten nur sehen. +++ Und Red Hill Mining Town dürfte durchaus mein heimlicher Lieblingssong von U2 sein, das darf man ja heute schon gar nicht mehr sagen…

 

Überschrift inspired by: Auf die Gier folgt die Panik © Damien, 2022

Überschrift also inspired by: New York Mining Disaster 1941 © The Bee Gees, 1967

Lyrics: Red Hill Mining Town © U2, 1987

Das Wunder von Lengede (2-teiliger Fernsehfilm mit u.a. Sylvester Groth, Armin Rohde, Axel Prahl und Martin Brambach als Otto) © Sat.1/Kaspar Heidelbach (Regie), D 2003

Web of Wicked Ways / Wenn’s gut werden muss.

Fiktives Vinyl: Andy Morricone – Im Kiefernwald fanden sie Holzkreuze © Kai von Kröcher, 2017/2022

 

It’s so hard to tell the truth so today I lie. +++ Aus der Abteilung Schnellmerker des Monats: Was bedeutet eigentlich „No Woman, No Cry“? Summte es beim Frühkaffeekochen eben vor mich hin und Fragen stellten sich ein. +++ Ohne Fragen keine Antwort, sage ich immer. +++ Neulich habe ich mich lange mit Andy unterhalten (Morricone/Anm.d.Red.), ich meinte, ob er das eine gute Idee findet. Den Albumtitel, meine ich: „Die Stadt, die niemals schläft“ zum Beispiel hätte ich besser gefunden – aus der Politik sollte ein Künstler sich raushalten. +++ Apropos, da fällt mir eine Sache noch ein. Auf dem Parkplatz der Neuen Welt neulich, ich kam gerade bei Bauhaus raus. Was hatte ich denn gekauft, 180er Schleifpapier und einen billigen Pinsel, das interessiert Sie ja nicht. Da rief mich von weitem ein Künstler, den ich hiermit schön grüße – er wollte gerade zu Bauhaus rein, kleine Nägel besorgen. Ich glaube, „Nägel“ sagt man gar nicht mehr, wie man auch „Schraubenzieher“ und „Zollstock“ nicht mehr sagt. Ich musste da gleich an diesen Bruce-Springsteen-Song denken, weil ich ja schon drin gewesen war, und er wollte erst noch rein: Glory Days, glaube ich, vom 84er Album Born in the USA, das wird ja auch immer von Dummköpfen missverstanden: He was walking in, I was walking out, oder umgekehrt. Jedenfalls, meinte er, meine fiktiven Cover, die seien ja alle schon ganz schön Moll. Ich habe da später noch lange drüber nachdenken müssen: Das stimmt natürlich, aber vielleicht bin ich auch einfach eher The Sound als, sagen wir mal, Swing Out Sister – einen alten Zausel verpflanzt man nicht mehr, wie man so sagt. +++ Und Moll ist das neue Dur…

 

Überschrift inspired by: Web Of Wicked Ways © The Sound, 1987

Überschrift also inspired by: Wenn’s gut werden muss (Werbeslogan) © Bauhaus, ca. 2016

Lyrics: I Lie © Konni Kass, 2016

No Woman, No Cry © Bob Marley and the Wailers, 1974

Glory Days © Bruce Springsteen, 1984

You On My Mind © Swing Out Sister, 1989

Boum / Die Straßen von San Francisco.

Fiktives Vinyl: Florence Przybylski – Der Tod ist immer auch ein Abschied © Kai von Kröcher, 2015/2022

 

Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück. +++ Vermutlich werde ich Ihnen jetzt noch eine ganze Weile auf den Geist gehen mit meinem desperativen Windmühlenkampf gegen die Baureihe 483/484, und zu Recht werden Sie fragen: Was hat er bloß immer mit seiner Baureihe 483/484?! +++ „Die Kabarettistin Lisa Eckhart hat einen wilden Paris-Roman geschrieben, der beim besten Willen nicht zu verstehen ist“, schreibt die Wochenzeitung Die Zeit. Wild ist doch schon mal gut, und verstehen tun sowieso meistens die Leute eh nur die Hälfte. Nein, ohne Quatsch – immer mal wieder wird man gefragt: „DJ Kröch, meinst du das ernst mit der Lisa Eckhart, dass du die scharf findest? Oder ist das ironisch gemeint?“ Um jetzt ganz ehrlich zu sein, ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten – aber gebunden oder als Hörbuch: den Roman dürfen Sie mir gerne zu Weihnachten schenken. +++ Als erstes Medium überhaupt hier die Platte Der Tod ist immer auch ein Abschied öffentlich präsentieren zu dürfen, da muss ich schon sagen! Florence Przybylski zählt insgeheim eh zu meinen Lieblingen in der Sparte deutscher Candy-Dance-Pop. Allein schon der Titel in seiner modernen Schreibweise ohne Vokale. Dr Td st mmr ch n bschd – ein bisschen wie bei Loriot der Sketsch mit dem Hund: Ihr Hund kann gar nicht sprechen. Die berechtigte Frage hier natürlich, hätte konsequenterweise die Interpretin nicht ebenfalls auf ihre Kosmonauten beschränkt werden müssen? Ich sage Ihnen jetzt etwas ganz im Vertrauen: Ich mag es nicht, wenn Menschen auf eine einzige Sache reduziert werden, das lenkt vom Eigentlichen ab! Florence Przybylski zum Beispiel ist das, was wir alten weißen Männer früher „eine Granate“ genannt hätten – stattdessen zeigt sie auf ihrem Cover einen überfahrenen Fuchs. +++ Okay, was ich zu „meiner“ Baureihe 483/484 noch sagen wollte, da bin ich echt penetrant. Erinnern Sie sich, wie Til Schweiger damals dem Tatort im Ersten ein neues Outfit verpassen wollte? Nach dreihundert Millionen von Jahren den Vorspann abändern, eine ganz neue Titelmelodie. Obwohl, wie wir (fast alle) wissen, Udo Lindenberg damals da Schlagzeug gespielt hat. Das wollte außer Til Schweiger natürlich kein Mensch, und so ist es bei der alten Musike geblieben. Oder stellen Sie sich vor, irgendein Depp sagt, geil, die amerikanischen Polizeiautosirenen sind doch viel cooler als unsere hausbackenen deutschen – die kennt man sogar aus dem Fernsehen! +++ Baureihe 483/484 (Abfahrtsignal) – FUCK OFF!

 

Überschrift inspired by: Boum (Roman) © Lisa Eckhard, 2022 (Hanser)

Überschrift also inspired by: Die Straßen von San Francisco (The Streets of San Francisco, Fernsehserie mit Karl Malden, Michael Douglas) © ABC, USA 1972 – 1977 

Lyrics: Irgendwo auf der Welt © Comedian Harmonists, 1932 (M: Werner Richard Heymann, T: Robert Gilbert)

Makakenschredder / Nachtzug D 106.

Fiktives Vinyl: Cadillac Frank – Makakenschredder © Kai von Kröcher, 2017/2022

 

I like Campari soda, I’d can can if I could. +++ Erinnern Sie sich an Cadillac Frank? Ich selber war nie dabei – alles längst kaum mehr wahr, die Neunzigerjahre. +++ Wo ich Franziska Giffey vielleicht aber doch Recht geben muss: Die Baureihe Dingenskirchen fährt schon auffallend weich, beinahe schwebt sie. Im krassen Gegensatz dazu dieses kreissägende Abfahrtssignal – als flankierende Maßnahme würde ich Stroboskopblitze empfehlen. Und wer es dann noch immer nicht mitbekommen hat: kurz vor der Abfahrt die Türen unter Strom setzen. +++ Sie kennen mich: Ich hole mir meine Inspiration auf/von der Straße. Als ich die Karl-Marx-Straße gestern entlang mäanderte, meinen Blick schließlich dem Himmel zuwandt. Eine einmotorige Propellermaschine zog über den Dächern Neuköllns ihre Runden – und ein Transparent hinter sich her. Werbung fürs iPhone 37, dachte ich so im Scherz. In fetten Lettern stand da stattdessen aber zu lesen: „VIRUS LÜGE“. +++ Ist ja lustig: das Coverfoto heute von Cadillac Franks Makakenschredder (oben), das war damals auch an der Karl-Marx-Straße entstanden – im Parkhaus unter dem Klunkerkranich. Was ihn beim Album-Titel aber geritten hat, erschließt sich mir nicht komplett. +++ Vielleicht hole ich mir auch so ein Kleinstflugzeug – der Einfachheit halber eine Cessna oder ’ne Piper, ich habe da echt keine Ahnung. Was fliegt denn der Merz? So ’n Teil ungefähr werde ich mir für den Nachmittag kurz einmal ausleihen, eine Iljuschin Il-103 – und auf dem Transparent hinten dran: „BAUREIHE 483/484 – FUCK OFF!“

 

Überschrift inspired by: Makakenschredder © Cadillac Frank, 2022

Überschrift also inspired by: Nachtzug D 106 (Fernsehfilm mit Klaus Schwarzkopf) © Helmut Ashley (Regie)/ZDF, D

Lyrics: U Can Dance © DJ Hell feat. Bryan Ferry, 2009

Backstabber / Pest Reject Pro.

Fiktives Vinyl: DJ Doppelmoral – Weil er Whisky/Cola trank © Kai von Kröcher, 2011/2022

 

Cybertruck, am besten von Tesla – we can talk about everything. +++ Mein Plattencover heute schielt auf den Mainstream, so was verkauft sich rein über die Optik. Den Titel hatte ich irgendwo mal beim Markendiscount aufgeschnappt: Da sagte ein offensichtlich eher Gestrandeter zu einem anderen offensichtlich eher Gestrandeten. Sie unterhielten sich über einen abwesenden Dritten. Und der eine meinte zu dem anderen – irgendwie anerkennend sagte er das. Er meinte, der Dritte, über den sie da sprachen, der trinke wohl Whisky/Cola – eine Art Signature Move. +++ Das Coverfoto entstand – vermutlich haben Sie es am Straßenpflaster schon erkannt: Im Sommer 2011 gelang mir dieser Schuss während einer Stadtführung in Dresden. +++ Ein wenig unangenehm ist mir das schon, wer will schon Wutbürger sein. Und gibt es ein spießigeres Thema als die Berliner S-Bahn? Aufregen über Zugverspätung und -ausfälle? Aber ist Ihnen in den ganz neuen Zügen das Abfahrtsignal einmal aufgefallen? Es kann Ihnen gar nicht nicht aufgefallen sein: Frequenz-Terror par exellence – der verantwortliche Sound-Designer muss aus der Schädlingsbekämpfung kommen. Franziska Giffey beschreibt die Baureihe als „hervorragende Werbung für den Umstieg vom Individualverkehr“ – selten hat jemand größeren Unsinn erzählt. +++ Eine Petition werde ich starten – mein altes Daaa-Düüü-Daaa will ich zurück!

 

Überschrift inspired by: Backstabber © The Dresden Dolls, 2006

Überschrift also inspired by: Pest Reject Pro – Schädlingsvernichter (Elektromagnet- und Ultraschalltechnologie, ohne Chemie), 24,90 € bei Bauhaus

Lyrics: Nahuel Huapi © Bilderbuch, 2021

S-Bahn Berlin: Baureihe 483/484

Morning View / Schillerkiez ist Killerkiez.

Fiktives Vinyl: Underground Overdose – Lethargie (der Sampler) © Kai von Kröcher, 2018/2021

 

It’s so much easier when sea foam green is in fashion. +++ Was reimt sich auf „Schurkenstaat“? Gurkensalat. +++ Qamar neulich stammt aus Katar, beziehungsweise ihre Eltern kommen dort her – sie selbst wuchs im Neuköllner Schillerkiez auf (Ihr seid solche Fucker berichtete). +++ Was reimt sich auf „Innensechskantschlüssel der Firma Bauer und Schaurte“? Lassen Sie sich Zeit, es ist nicht ganz einfach. +++ Einfach ist sowieso zurzeit alles nicht: Letztens hatte ich morgens um zehn eine Phrase im Mund: „Underground, overground, nananana.“ Kommen Sie drauf? Bis kurz vor zehn am selben Abend hatte ich dran zu knabbern, dann fiel es mir ein. Kann einen verrückt machen, vermutlich haben Sie andere Sorgen. +++ Passend dazu heute das Cover (oben): Unfertig irgendwie – das Unfertige im Leben stellt sich im Nachhinein oft als das Interessantere heraus. Zum Beispiel habe ich bis vor wenigen Tagen geglaubt, es hieße „Imbusschlüssel“, das ist aber falsch. Und „Innensechskantschlüssel der Firma Bauer und Schaurte“ reimt sich erwiesenermaßen auf gar nichts, das war nur ein Spaß. Versuchen Sie, das einmal auszusprechen: Schaurte. +++ Über die Platte letztens von Qamar hatte ich mir nachträglich noch viele Gedanken gemacht. Ob der Titel irgendjemanden möglicherweise verletzen würde. „Schurkenstaat“ ist dabei doch eher als Variable gedacht – jeder kann dafür einsetzen, was er will: Katar, Bolsonaro, den Kreml, Merkeldiktatur, FC Bayern oder den Bosporus – das macht vielleicht alles noch schlimmer. +++ Das Foto fürs Cover (oben) entstand vor vier Jahren im Parkhaus bei Karstadt am Hermannplatz, tolle Location – auf dem Sampler vertreten u.a. sind Ilse Paradies, Erdal Bronko, DJ Tiernahrung…

 

Überschrift inspired by: Morning View © Incubus, 2001

Überschrift also inspired by: Nordsee ist Mordsee (mit Uwe Bohm und Musik von Udo Lindenberg) © Hark Bohm (Drehbuch, Regie), D 1976

Lyrics: Are You In? © Incubus, 2001

Bauer-und-Schaurte-Werke in Neuss: 1876 als Rheinische Schrauben- und Mutternfabrik AG gegründet, befinden sich Teile des schriftlichen Nachlasses im Stadtarchiv Neuss

Changeling © Simple Minds, 1979

Böhmische Dörfer / Du hast Angst vorm Hermannplatz.

Fiktives Vinyl: Qamar – Schurkenstaat © Kai von Kröcher, 2013/2022

 

Weckt sie nicht, bis sie selber sich regt – ich habe mich in ihren Schatten gelegt. +++ Die Karl-Marx-Straße muss man mögen, sage ich immer – nicht etwa im Sinne von, man kann gar nicht anders. Eher so, sie ist nicht gerade jedermanns Sache. An einem leuchtenden Oktobertag aber, morgens um zehn, da räumt sie einem durchaus reelle Chancen ein. Wenn die noch reine Frühsonne sanft über der Straßenschlucht steht. Viele Geschäfte öffnen nicht vor elf, das Leben erscheint fast schon beschaulich, so stellt man sich landläufig Lüneburg vor. Im Kaffeehaus drinnen, dem Café Rix – von Rixdorf natürlich, als damals die Böhmen dort Zuflucht fanden. Da war ich gestern der erste Gast. Der Kellner war leider nicht da – nur eine Frau, die war auch okay, Zeiten ändern sich. +++ Die Kurzgeschichte gestern, hatten Sie die verstanden? Ziemlich verklausuliert: Zuhälter, Salzsäure im Gesicht? Sollte einfach nur eine augenzwinkernde Alltagsbeobachtung sein, ich liebe augenzwinkernde Alltagsbeobachtungen. Dass viele Touristen/Besucher/Neuberliner, wenn man sie fragt. Gibt doch im Internet immer so die Rubik, was war das Erstaunlichste in Deutschland, woran kannst du dich nicht gewöhnen. Da sagen dann alle immer als erstes, die Nazis diese ewige Rechthaberei Kohlensäure im Mineralwasser. +++ Qamar lernte ich an einem Schaufenster kennen, sie stand da einfach so rum, Karl-Marx-Straße hoch Richtung Hermannplatz. Sie gilt als eine der Nachwuchshoffnungen im deutschen Trip-Hop. Ihr Vorbild ist Tricky, ansonsten alles Mögliche, Caspar zum Beispiel. Anfang der Nullerjahre im Schillerkiez geboren, befasst sie sich in ihren Tracks oft auch mit ihren arabischen Wurzeln. Qamar in etwa heißt übrigens „Mond“, das Foto haben wir nachmittags dann auf der Oranienstraße gemacht.

 

Überschrift inspired by: Böhmisch-Rixdorf (auch Böhmisches Dorf, tschechisch: Český Rixdorf), kleine Gemeinde protestantischer Flüchtlinge aus Böhmen, seit 1737 – heute Ortsteil Neuköllns 

Überschrift alsi inspired by: Du hast Angst vor’m Hermannplatz (Slogan) © Muschi Kreuzberg (Modelabel), 2015

Lyrics: Wenn ein Mensch lebt © Puhdys, 1973

Tricky (* 27. Januar 1968 in Bristol als Adrian Nicholas Matthews Thaws), britischer Rapper, Musiker und Produzent

Alles endet (aber nie die Musik) © Caspar, 2013

Take Prisoners / To Cut a Short Story Short.

Fiktives Vinyl: Facility – Meine Gefühle damals waren diametral © Kai von Kröcher, 2019/2022

 

Check baby, check baby. One two three. That’s alright with me. +++ Ich schreibe jetzt Kurzgeschichten. Für einen Roman reicht meine Aufmerksamkeitsspanne nicht aus, das Feld überlasse ich anderen. Wenn einem bei „Aufmerksamkeitspanne“ ein Flüchtigkeitsfehler unterläuft, gibt es eine Panne. Eine Self-Fulfilling Prophecy, wie man so sagt. Mit der Suche nach einer Anstellung hier neulich, das war vielleicht etwas blauäugig. Berufseinstieg mit Ende Fünfzig ist dann wohl doch etwas hoch gepokert. Deshalb jetzt hier also die Kurzgeschichten. Bisher ist es ja nur die eine, und die sicherlich selbst für eine Kurzgeschichte etwas zu kurz. Aber Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut, wie man so sagt, selbst ein Fußballspiel dauert neunzig Minuten. Kurzgeschichten sind eine gute Idee, wobei ich natürlich gern vor mich hin fasele. Vielleicht könnte man mehrere von ihnen in einem Buch zusammenfassen, einem Novellen-Band, kurze Novellen: Novelle Vague. Finde ich super, wenn man auf Reisen ist. Irgendwann, das muss letztes Jahr schon gewesen sein. Mit meinem Sohn von München-Hauptbahnhof nach Berlin. Meistens ist er ein unfassbar geduldiger Begleiter, wir haben uns nicht eine Sekunde gelangweilt – und nicht ein einziges Mal hat er gefragt, wann sind wir da. Aber in Bamberg fiel mir was auf. Weil ich auf Bamberg gespannt war, im Zweiten Weltkrieg von Bomben angeblich verschont. Anders als Würzburg oder auch Braunschweig. Vielleicht alles relativ. Ich hatte mir mehr versprochen. Der Bahnhof zumindest, als wir da hielten, war eine reine Enttäuschung. Gelsenkirchen zum Beispiel ist auch ein Schlag ins Gesicht, aber das ist natürlich eine ganz andere Strecke, wer will da schon hin. Außer vielleicht auf dem Weg nach Paris. Ich hatte immer gedacht, über Paris habe Hitler seine schützende Hand gehabt seinerzeit. Weil er an einer verborgenen Stelle irgendwo doch eine entwaffnende Kultiviertheit besaß. Während er halb Europa in Schutt und Asche legt, verschont er die Stadt der Liebe, dachte ich immer. Die Geschichte aber ist eine andere. Meine Kurzgeschichte heute spielt ebenfalls auf Reisen. Sie ist aus der Perspektive einer jungen Ausländerin geschrieben. Ausländer sagt man ja eigentlich nicht, doch jeder Mensch ist Ausländer irgendwo. Und so ist auch diese Figur hier nicht näher definiert, das überlasse ich dem Auge des Betrachters. Aus Nairobi könnte sie sein, genau wie aus Albuquerque, das ist in Neu-Mexiko. Spielt keine Rolle. Die Frage ist eine andere: Es geht dabei, wie gesagt. Um eine junge Frau zu Besuch in Berlin. Vielleicht in Neukölln, aber trotz allem eher traditionell deutsch, das ist wichtig, sonst funktioniert die Geschichte nicht. Neukölln zum Beispiel im Saalbau. Heißt doch Saalbau, dieses – ja, ohne zu übertreiben könnte man(n) sagen: Kaffeehaus. Hinter dem Heimathafen, ich bin da so ewig nicht mehr gewesen. Nur draußen neulich vorbeigerannt. Sofort habe ich den Kellner vor Augen, der einem morgens das Frühstück serviert. Von der Seite schräg fällt das Sonnenlicht ein. Ich könnte nachher tatsächlich kurz dort vorbeischauen, muss eh zum Rathaus Neukölln. Blut abnehmen lassen. Gegenüber vom Rathaus natürlich, einfach Routine-Check. Da müsste ich langsam hier endlich mal hinmachen, die Geschichte geht so: „Es war ihr zweiter Tag in der Stadt, sie saß in dem halbdunklen Café ohne Musik und verzog eine Miene, als habe ein Zuhälter ihr Salzsäure direkt ins Gesicht gespritzt.“

 

Überschrift inspired by: Take No Prisoners © Lou Reed, 1978

Überschrift also inspired by: To Cut a Long Story Short © Spandau Ballet, 1980

Lyrics: Check Baby © Kurt Vile, 2018

Teenage Kicks © Nouvelle Vague, 2004

The King of Rock ’n‘ Roll © Prefab Sprout, 1988

Albuquerque: mit 564.559 Einwohnern die größte Stadt im US-Bundesstaat New Mexico

Take No Prisoners / Hope you guess my name.

Fiktives Vinyl: Jürgen Stalin – Strategischer Imperativ © Kai Heimberg, 2018 (Foto) / Kai von Kröcher, 2022 (Cover-Design)

 

Well, we made a promise, we swore we’d always remember. +++ Niemals die Rechnung ohne Jürgen Stalin machen! Als Taktikfuchs alter Schule meldet er sich fast wie durch Zufall am Vorabend des Erstschlags zurück – mit neuem Album und pünktlich zum 70sten Geburtstag des großen Sowjets und Einers Wladimir! +++ Für das Foto konnte Stalin die Berliner Ikone Kai Heimberg gewinnen, dem oft auch das Schwarzweiß-Porträt auf Bowies Heroes-Cover zugeschrieben wird – für das natürlich aber der Japaner Masayoshi Sukita damals verantwortlich zeichnete. +++ Übrigens habe ich bei Instagram jetzt mal grob überschlagen und bin auf phänomenale 125 Albumcover gekommen. +++ Sie sind der Meinung, das war Spitze! +++ Mal sehen, ob Sie auch hier drauf kommen: Was haben Putin und ich gemeinsam? +++ Kleine Anekdote am Rande: Aus Jux und Dollerei hatten mein Sohn und ich gestern wieder einmal die Fähre von Wannsee nach Kladow und zurück genommen, und als wir von Bord gingen, da beugte sich auf dem Landungssteg eine dieser Trullas zu meinem Sohn auf seinem Fahrrad herunter, klatschte tantig in ihre Hände und geriet ungefragt ins Jubilieren: „Ja, duuuuu machst das aber toll! Da ist dein Papa bestimmt stolz auf dich!“ Otto und ich, wir sahen uns an – im Augenwinkel hörten wir, wie sich bereits eine andere Trulla ungefragt einmischte: „Der Opa – das ist doch der Opa!!!“ +++ Okay, und was hat das jetzt mit Putin zu tun? Teils voller Abscheu, teils liebevoll nennen die Russen ihn „дед“…

 

Überschrift inspired by: Take No Prisoners © Lou Reed, 1978

Überschrift also inspired by: Sympathy for the Devil © The Rolling Stones, 1968

Lyrics: No Surrender © Bruce Springsteen, 1984

Le Putin (* 7. Oktober 1952 in Leningrad, UdSSR), russischer Politiker

‚Heroes‘ © David Bowie, 1977

Blockbuster / What Becomes of the Brokenhearted.

Fiktives Vinyl: Reisebüro – Im Auge der Schöpfung © Kai von Kröcher, 2013/2022

 

The world on your shoulders, the love of your mother, the fear of the future. +++ Was passiert eigentlich mit dem Internet in einem Atomkrieg? Ist dann alles einfach finito, Maschina kaputt, als hätte man nie gelebt – oder wird dieser/-ses Blog hier die Zeit überdauern? +++ Sie werden lachen, aber solche Fragen stellt man sich heutzutage. Neulich in der Passage, also im Kinosaal 4 unten im Keller. Der schlimmste Mensch der Welt war gefühlt ja im Frühjahr gestartet. Und in der norwegischen Originalfassung wahrscheinlich eh nicht der Blockbuster. Vielleicht werde ich auf meine alten Tage noch zum Cineasten, fänd‘ ich okay. In der Vorabendauffürung über den Daumen immerhin aber acht Zuschauer. Massive, gemauerte Stützpfeiler – nehmen viel von dem abgedunkelten Raum ein. Dafür aber sicher – im Zweiten Weltkrieg vermutlich ein Luftschutzkeller. Ich dachte versonnen: Was, wenn der Film zu Ende ist – und man kommt dann da hoch, und alles dem Erdboden gleich? +++ Das Album der Gruppe Reisebüro heute – ein Schelm, wer an Kubrick Kubicki dabei denkt, den alten Stammtischproleten: Ich wäre gern tot und eine Fotografie (hinter dem Tresen meiner Lieblingsbar). Eigentlich hätte ich beinah gedacht, über die Monate hätten wir bald an die einhundert der besten Schallplatten aller Zeiten hier vorgestellt. Müsste man einfach mal zählen – dürften aber, naja. Doch irgendwann muss Schluss damit sein, Kunst sollte nicht langweilen. +++ Das hatte vielleicht etwas verwirrend geklungen, gestern. Dass da am Ende im Film eine Standfotografin auftaucht. Das war jetzt kein Missgeschick, kein Fehler vom Kameramann oder so. Aus Versehen die Standfotografin mit im Bild, nein, nein: die Hauptfigur im Film arbeitet am Schluss als Standfotografin, das wollte ich klarstellen. Sonst denken Sie noch, was ist das denn für’n Film!

 

Überschrift inspired by: Block Buster! © The Sweet, 1973

Überschrift also inspired by: What Becomes of the Brokenhearted © Jimmy Ruffin, 1966

Lyrics: The Love of Richard Nixon © Manic Street Preachers, 2004

Jenseits von Eden © Nino de Angelo, 1983

Verdens verste menneske (dt. Der schlimmste Mensch der Welt) © Joachim Trier (Regie, Drehbuch), N/F/S/DK, 2021

Brian Connolly (* 5. Oktober 1945 in Govanhill, Glasgow/Schottland; † 9. Februar 1997 in Slough, Berkshire/England), Sänger der Sweet

Passage-Kino | Karl-Marx-Straße 131 | Berlin-Neukölln