Narzisten / Feelings That We Thought We’d Never Lose.

Fiktives Vinyl: Jürgen Stalin – Künstler in die Produktion © Kai Heimberg (Foto)/Kai von Kröcher (Cover-Entwurf), 2018/2023

 

I really don’t understand the situation. +++ Neulich wurde ich von jemandem gefragt, den hatte ich vor fünfunddreißig Jahren wahrscheinlich zuletzt mal gesehen. Warum ich denn mit meinen Plattencovern nicht weitermache. Dabei war das alles eh aus einem Missverständnis geboren: Tage zuvor hatte ich eine What’sApp-Nachricht bekommen von ihm, er käme nach Berlin, und ob wir uns nicht auf einen Kaffee treffen wollten. Ich wunderte mich nicht schlecht – einst war er Sänger einer lokal sehr erfolgreichen New-Wave-Band im Braunschweig der Achtzigerjahre gewesen. Auch ich bin damals Sänger einer lokal sehr erfolgreichen New-Wave-Band in Braunschweig gewesen, bloß einer anderen. Miteinander zu tun hatten wir eigentlich nie wirklich gehabt. Jeder machte halt so sein New-Wave-Ding, und fünfunddreißig Jahre später nun aus heiterem Himmel eine Tasse Kaffee – warum nicht. +++ Um die Geschichte abzukürzen, sie aufzulösen, sozusagen: Eigentlich hatte er nämlich mit einem ganz anderen Kai einen Kaffee trinken wollen, nur eben statt dessen Nummer meine weitergeleitet bekommen. Das Missverständnis wurde leider nach einem Tag nur schon aufgeklärt, unser Chatverlauf bis dahin war leicht verwirrend gewesen – und im Nachhinein deshalb natürlich sehr lustig. +++ Schade, ich hätte gern sein Gesicht gesehen, wäre ich unverhofft zu dem verabredeten Kaffee in die Kantstraße gekommen – anstelle des anderen Kais. +++ Am Ende egal, wir haben uns dann zu dritt auf den Kaffee getroffen, und das war sehr erfrischend nach all dieser Zeit. Bei der Gelegenheit fragte er mich eben auch, warum ich denn mit meinen Plattencovern nicht weitermache. Ich holte ein bisschen aus und habe es ihm haarklein auseinanderklamüsert, wie man so sagt. +++ Der eigentliche Kai übrigens, von dem im Text hier die Rede ist, der hatte seinerzeit das Foto (oben) geschossen, da schließt sich der Kreis…

 

Überschrift inspired by: The Narcissist © Blur, 2023

Überschrift also inspired by: Barbaric © Blur, 2023

Lyrics: It’s No Game (Part 1) © David Bowie, 1980

To Cut a Long Story Short © Spandau Ballet, 1980

Staatsfeind No. 1 / What’s Love Got to Do with It.

Oktapolare Fotografie: Molkenmarkt mit Parochialkirche, Altes Stadthaus, Großer Jüdenhof, Nikolaikirche, Rotes Rathaus, Fernsehturm, Klosterruine © Kai von Kröcher, 2021

 

Tu es la vague. +++ Ich für meinen Teil bin ja jetzt eher einer von diesen gemächlichen Fahrradfaschisten, und da war ich nach längerer Zeit neulich mal wieder alleine am Molkenmarkt. ‚Uiii‘, werden Sie vielleicht denken. Aber ganz so beschaulich, wie Sie sich das vorstellen, ist das natürlich nicht. +++ Mein Sohn jedenfalls hat sich über die ersten Jahre immer mal wieder gerne ein Buch mit Bildern von Otto Nagel angeschaut. Zur Zeit dieser Bilder durfte er (Otto Nagel/Anm.d.Red.) schon nicht mehr in seinem eigenen Atelier arbeiten, da malte er auf der Straße. Vorausahnend hielt er fest, was kurze Zeit später dem Bombenhagel (und nach dem Krieg teilweise der Stadtplanung) zum Opfer fiel. Es gibt da auch dieses Bild vom Großen Jüdenhof, und dieser Große Jüdenhof – auf meinem Foto (oben) läge der etwa auf neun Uhr, rechts neben dem Plattenbau. +++ Ich finde mein Bild ja großartig, besonders wenn ich getrunken habe. Im Krieg stark getroffen, war der Große Jüdenhof nach Kriegsende jedenfalls zu einem Parkplatz eingeebnet worden – das fand man top, seinerzeit. Die alten Straßenverläufe der ganzen Gegend sollen ja nun nach und nach ungefähr rekonstruiert werden, was ich wiederum top finde! Und – lange Rede, kurzer Sinn. Jedenfalls stand ich da neulich an dieser Baustelle und staunte nicht schlecht: Die Akazie, die auch auf dem Gemälde von Otto Nagel schon zu sehen ist. Diese Akazie, 1938 gepflanzt, die im Krieg stark beschädigt worden war und lange als tot galt – als Stumpf steht sie inmitten der Asphaltwüste noch heute, und irgendwann fing sie dann an, wieder auszuschlagen. +++ Wie Sie wissen, bin ich ein unbestechlicher Beobachter der deutschen Medienlandschaft. Und regelmäßig beim Einkauf im Markendiscounter werfe ich einen interessierten Blick auf die Schlagzeile der Bildzeitung. Heute ist ja Jane Birkin gestorben. Und damals, als Tina Turner starb – auch schon wieder ein bisschen her. Da schoss mir so durch den Kopf: Mit ihrem Tod hatte sie geschafft, was vor ihr noch keinem in letzter Zeit gelungen war – mit ihrem Tod hatte Tina Turner Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck als Staatsfeind No. 1 von der Titelseite verdrängt. +++ Gerade habe ich endlich kapiert, was das überhaupt heißen soll, dieses „moi non plus“, dem Internet gilt mein Dank: Salvador Dalí einst soll nämlich gesagt haben: „Picasso ist Kommunist – und ich auch nicht.“ Verstehen Sie? Ich auch nicht, das ergibt in dem Zusammenhang natürlich erst einmal keinen Sinn. Oberflächlich betrachtet zumindest. Was das in diesem bekannten französischen Popsong aber zu suchen hat (Je t’aime … moi non plus/Anm.d.Red.), das kann ich Ihnen leider auch nicht erklären.

 

Überschrift inspired by: Der Staatsfeind Nr. 1 (Enemy of the State – Actionthriller mit Gene Hackman, Will Smith u.a.) © Tony Scott (Regie), USA 1998

Überschrift also inspired by: What’s Love Got to Do with It © Tina Turner, 1984

Lyrics: Je t’aime … moi non plus © Serge Gainsbourg & Jane Birkin, 1967

Der Große Jüdenhof (Ölgemälde, 61 x 77,5 cm) © Otto Nagel, 1942

Otto Nagel († 27. September 1894 in Berlin-Wedding; † 12. Juli 1967 in Berlin-Biesdorf), dt. Maler, Schriftsteller und Kommunist, erster Herausgeber der Satirezeitschrift Eulenspiegel

Berliner Bilder – Otto Nagel © Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin/DDR, 1970

Jane Birkin (* 14. Dezember 1946 in Marylbone, London; † 16. Juli in Paris), brit.-frz. Sängerin und Schauspielerin, Mutter u.a. von Charlotte Gainsbourg

Tina Turner (* 26 November 1939  als Anna Mae Bullock in Brownsville, Tennessee; † 24. Mai 2023 in Küsnacht, Kanton Zürich), urspr. US-amerikanische Soulsängerin – ab 2013 Schweizerin

Robert Habeck (* 2. September 1969 in Lübeck), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz stellvertretender Bundeskanzler

 

Der Mann, der die Welt aß / Finden Sie die acht Unterschiede.

And you may find yourself in a beautiful house, with a beautiful wife © Bundesdruckerei, 2013

 

And you may ask yourself: “How did I get here?!” © Bundesdruckerei, 2023

 

On highway number nineteen the people keep the city clean. +++ Wissen Sie, was mir äußerst bedenklich erscheint? Mir fällt nichts dazu ein, zu den Ausweispapieren da oben – absolut nichts. Außer, dass die Michel-Piccoli-Frisur immer noch sitzt!

 

Überschrift inspired by: Der Mann, der die Welt aß (Film nach einem Theaterstück von Nis Momme Stockmann) © Johannes Suhm (Regie), D 2022

Überschrift also inspired by: Finden Sie die acht Unterschiede – habe ich auch vergessen, war das in der Hörzu?

Bildunterschrift inspired by: Once In A Lifetime © Talking Heads, 1980

Lyrics: Nutbush City Limits © Ike & Tina Turner, 1973

Jacques Daniel Michel Piccoli (* 27. Dezember 1925 in Paris; † 12. Mai 2020 in Saint-Philbert-sur-Risle), frz. Theater- und Filmschauspieler

Harvest Moon / Nothing’s Happening By The Sea.

Männer, die am Meer entlanglaufen und eine Zigarette rauchen (mit ihren Frauen) © Kai von Kröcher, 2002

 

White waves tumble down and gently roll back into blue. +++ Diverse Fachleute hatte Lars Wagner zu seinen Fotografien angeschrieben – und deren Antworten in der Ausstellung ausgehängt: Experten für Körpersprache, Weltumsegler, Psychologen, Evolutionsforscher etc. lässt er erläutern oder vermuten, weshalb Männer komplett anders am Ozean stehen und in die Welt hinausschauen als Frauen. +++ Beim Entfusseln des Dias (oben) hatte ich mich gerade an des Mannes linke Hand machen wollen – bis ich in der Vergrößerung überhaupt erst entdeckte, dass da gar keine Fussel ist, sondern er noch das brennende Streichholz in den Fingern hält: Momente der Weltgeschichte, die für immer verloren wären, hätte nicht jemand sie eingefangen und konserviert. +++ Eigentlich würde ich gern noch darüber schreiben, wie vier Typen auf der Brücke gestern gegen Abend (Admiralbrücke/Anm.d.Red.) Harvest Moon von Neil Young nachspielten und wie ich dasaß und hoffte, die würden nie wieder aufhören damit – aber für heute hatte ich Spargel und Kartoffeln eingekauft, da möchte ich mir jetzt gleich etwas auf den Herd zaubern. +++ Bevor die Spargelzeit wieder vorüber ist – das Leben zieht so schnell vorbei!

 

Überschrift inspired by: Harvest Moon © Neil Young, 1992

Überschrift also inspired by/Lyrics: Nothing’s Happening By The Sea © Chris Rea, 1983

Bildunterschrift inspired by: Männer, die aus Wasser schauen (Fotoserie) © Lars Wagner, 2017

Blue Skies / Tausende strömen nach Lanz‘ Verhaftung zu den Geldautomaten.

Männer, die aufs Wasser schauen (Foto-Serie, Postkarte zur Ausstellung) © Lars Wagner, 2017

 

 

Ein Schritt nur, vor uns ist die See, dahinter liegt New York. +++ Das jedenfalls ist gestern passiert: Ich war gerade dabei, meinem Sohn eine halbherzige Standpauke zu halten, ungefähr am Büro der Partei. Wir waren auf dem Weg zu einer Ausstellung, da plötzlich sprach von hinten der geschätzte Autor meinen Namen. Beschämt lächelnd erklärte ich mich, ich hielte meinem Sohn gerade eine spießige Standpauke. Weil ich für die Finissage ihm extra ein frisches T-Shirt angezogen – und er es auf den ersten zweihundert Metern direkt wieder eingesaut hatte. +++ Kann man – in gerade mal fünf Wochen Blogabstinenz – blogposten verlernen wie Radfahren? +++ Der Autor schmunzelte, das sei aber eine Leistung. Das letzte Mal hätten wir uns wohl gesehen, da standen wir gemeinsam auf der Gästeliste der Sparks im SchwuZ. This Town Ain’t Big Enough for Both of Us. Der Vermutung bin ich eben kurz nachgegangen: Es gibt eine Konzert-Doku genau dieser Show auf arte, wir hatten uns damals leise über den Kameraassistenten amüsiert, der musste die komplette Konzertlänge lang die Kamera von links nach rechts und wieder zurück schieben, anderthalb Stunden, der Mitschnitt ist von 2017 – das passt. +++ Was zwei Tage vorher passiert war: Auf dem Nachhauseweg von der Spree in Charlottenburg ging mein Ehrgeiz auf ein kühles Feierabendbier, ich wollte gerade schnell in den Admiralbrückenspäti an der – Sie ahnen es schon. An der Admiralbrücke, im Augenwinkel, erkannte ich Sascha David Joao – trotz Dunkelheit und Ewig-nicht-gesehen. Ich hatte mal bei ihm ausgestellt – was ich allerdings nicht wusste: seit ein paar Jahren ist er Mitbetreiber einer Galerie in der Kohlfurther Straße, schräg gegenüber des Griechen in der Kreuzberger Weltlaterne. +++ Sascha David Joao meinte, die Ausstellung würde mir gefallen, und das tat sie dann auch: Der Fotograf Lars Wagner hatte in Portugal einst Männer undercover von hinten fotografiert, die auf den Atlantik schauen. Darüber könnte man eine psychologische Abhandlung schreiben – die Serie hatte es 2021 sogar in die mare geschafft, die Kulturzeitschrift der Meere. +++ Und so hatten Otto und ich auf den allerletzten Drücker die Fotos gestern gerade noch gesehen – morgen schon eröffnet die nächste Ausstellung…

 

Überschrift inspired by: Blue Skies (Roman, dt. Übersetzung) © T.C. Boyle/Hanser Literaturverlage München, 2023

Überschrift also inspired by: Tausende strömen nach Lanz‘ Verhaftung zu den Geldautomaten © das Internet, 2023

Überschrift also inspired by: Markus Josef Lanz (* 16. März 1969 in Bruneck, Südtirol), italienisch-deutscher Fernsehmoderator 

Lyrics: Vier Stunden vor Elbe 1 (dedicated to Helga Feddersen) © Element of Crime, 1991

Die Partei | Büro Friedrichshain-Kreuzberg | Admiralstraße | Berlin-Kreuzberg

Berlin © Ideal, 1980

Morgens leicht, später laut (Texte) © Detlef Kuhlbrodt/Suhrkamp, 2007

This Town Ain’t Big Enough for Both of Us © Sparks, 1974

Warum schauen Männer aufs Meer © Lars Wagner/mare, Ausgabe 140 (Juni/Juli), 2021

Sparks | live | SchwuZ | Rollbergstraße 26 | Berlin-Neukölln | 6. Oktober 2017

tunnel19 e.V. | Galerie für Fotografie | Kohlfurther Straße 42 | Berlin-Kreuzberg

Heraus zum 1. Mai Tai / On the Street.

ACAB: Opa erzählt vom Krieg (autofiktionale Erinnerung) © Kai von Kröcher, 1997

 

Ich bin einfach zu klein. Ich komme hier nicht weg.

 

Überschrift inspired by: Mai Tai – Cocktail mit J. Wray & Nephew-Rum, pipapo © Tahiti, ca. 1934 – 1944

Überschrift also inspired by: On the Street © Clara Luzia, 2017 

Bildunterschrift inspired by: Sympathy for the Devil © The Rolling Stones, 1968

Textauszug aus: Hast du uns endlich gefunden (autofiktionale Lebenserinnerung) © Edgar Selge, 2021

Jaws / Auf den Schwingen des Todes.

Memory of a Free Festival (signiert) © Otto Glunz, 2023

 

I’m just a gift to the women of this world. +++ Heißen hätte es gestern müssen: Drüben in Amiland, wie ich gerne zu sagen pflege. Drüben in Amiland wird Midazolam zur Vollstreckung der Todesstrafe gespritzt, nicht etwa einfach nur begleitend zur Beruhigung der Nerven – man injiziert es als das totbringende Gift himself. +++ Verstehen Sie? +++ Wie gesagt, hatten wir uns über das Internet kennengelernt. Dieses Momentum des unbestreitbaren Leidensdrucks hatte ich nutzen wollen, eine Entscheidung treffen zu müssen wie ein Mann – den roten Atomknopf drücken, es gibt kein Zurück. +++ Zeitgleich mit der – wie nennt man das in der Arztpraxis: die Frau, die da sitzt, wo man sich anmeldet? Mit der zusammen kam ich früh morgens vor der Praxistür an. Und einer Arzthelferin, pünktlich wie der sprichwörtliche Maurer. Viel später erst traf der Zahnarzt ein, er legte der Empfangsfrau wortlos etwas auf ihren Tresen. Eine Tüte mit Äpfeln? Beim FC Bayern würde man sagen, er habe „die Kabine verloren“. +++ Meiner Meinung nach jedenfalls hatte Wolodomyr, der Zahnarzt, der an Pál Dárdai erinnerte, im Vergleich „zu dem Ungarn“ allerdings kein Freund freundlicher Worte zu sein schien. Rein vom Feeling her hatte Wolodomyr den Empfangstresen verloren: Die quirlige Frau mit der Frisur vorn an der Anmeldung ließ ihren Chef spüren, wer hier der Chef war. Ich saß hinten im Zahnarztstuhl und wartete auf meine orale Dosis Midazolam, sie drehte vorne den Radiosender 94,3 rs2 auf. Ein gutgelaunter Moderator, der alle duzte, wollte von seinen Hörerinnen wissen, wie viele Paar Schuhe sie zu Hause im Schrank haben. Eine Frau aus Marxwalde rief an, die besaß nur ein einziges Paar. Und fand es super, nicht noch mehr Schuhe zu haben – der Moderator fand das crazy. Stoisch wartete ich auf mein Midazolam, in Insider-Kreisen „Egal-Pille“ genannt…

 

Überschrift inspired by: Der Weiße Hai (Jaws, Thriller) © Steven Spielberg, USA 1975

Überschrift also inspired by: Auf den Schwingen des Todes (A Prayer for the Dying, mit Mickey Rourke) © Mike Hodges (Regie), USA 1987

Bildunterschrift inspired by: Memory of a Free Festival © David Bowie, 1969

Lyrics: A Gift © Lou Reed, 1976

Midazolam: Arzneistoff aus der Gruppe der kurzwirksamen Benzodiazepine mit angstlösender und entspannender Wirkung

Es gibt kein Zurück © Thimo Sander, 2019

Pál Dárdai (* 16. März 1976 in Pécs), ungarischer Fußballspieler, seit vergangener Woche zum dritten Mal Trainer von Hertha BSC

94,3 rs2: Berliner Privatsender, 1992 hervorgegangen aus dem West-Berliner RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor)

Neuhardenberg (bis 1814 Quilitz, 1949–1990 Marxwalde), Gemeinde im Landkreis Märkisch-Oderland / Brandenburg

Зубы / Midazolam.

Großstadtidyll: Frühling in Berlin © Otto Glunz, 2023

 

Yeah, Mama, this surely is a dream. +++ Wir hatten uns im Internet kennengelernt, macht heutzutage fast jeder – als der Blitz in der Zahnwurzel eingeschlagen hatte, seinerzeit: „Angstpatienten“ gegoogelt und umgehend den ersten Termin klargemacht. Dreißig Jahre zuvor, als ich das letzte Mal einen Zahnarzt aufgesucht hatte, hatte es diese Art der – ja, was eigentlich? Diesen weltweiten Verbund von Rechnernetzwerken, der autonomen Systeme, noch gar nicht gegeben. Und dreißig Jahre lang hatte ich seitdem insgeheim immer gewusst, eines Tages würde der Tag kommen. +++ Nun gut. +++ Seit 2014 spritzen sie Midazolam in den USA übrigens bei der Vollstreckung der Todesstrafe. Da der Gevatter dann aber nach bis zu zwei Stunden erst einsetzt, ist das Mittel verständlicherweise umstritten. Und dennoch wahrscheinlich ein gar nicht mal unangenehmes Dahinscheiden. +++ Hier auf dem Zahnarztstuhl jedenfalls hatten sie mir das Präparat auf eigenen Wunsch (nämlich auf meinen) in Tablettenform eingeführt, und daher vergleichsweise leidenschaftslos ließ ich mir an einem einzigen Vormittag fünfzehn Spritzen in Gaumen und Kiefer stechen, mir vier Zähne ziehen, davon 2x Weisheit, drei weitere „Zoobies“ aufbohren und deren Wurzelkanäle ausschaben. +++ Okay. +++ Apropos ‚Jaws‘ (Kiefer): Neulich, durch Zufall, fand ich heraus, der Hai ist ein Fisch! Das war immer so ’n Running Gag gewesen zwischen Otto und mir: Haha, die Fledermaus ist ein Vogel, der Flughund ein Hund, der Walfisch ein Fisch. Genau wie der Hai – haben wir uns vielleicht auf die Schenkel geklopft vor intellektueller Überlegenheit! Und jetzt schlich ich kleinlaut, doch voller Demut. Kroch ich zu meinem Sohn und musste mich korrigieren – der Haifisch sei nun also doch gar kein Säugetier. Das hatte ich wirklich immer geglaubt. Und jetzt, wie dieser Vater in Dirty Dancing da damals immer zu sagen pflegte: „Wenn ich einen Fehler gemacht habe“, und so weiter – ich weiß es nicht mehr…

 

Überschrift inspired by: Зубы (russisch: Zähne)

Überschrift also inspired by: Zoobies (sprich „Zuhbies“, von russ. Зубы = Zähne) aus: Uhrwerk Orange (A Clockwork Orange, Roman) © Anthony Burgess, 1962

Lyrics: Sex and Candy © Marcy Playground, 1997

Midazolam: Arzneistoff aus der Gruppe der kurzwirksamen Benzodiazepine mit angstlösender und entspannender Wirkung

Der Weiße Hai (Jaws, Thriller) © Steven Spielberg (Regie), USA 1975

Dirty Dancing (Tanzfilm mit Patrick Swayze, Jennifer Grey und Jerry Orbach als Jake Houseman) © John Morris (Filmmusik), USA 1987

Drahtzieher und Eisenbieger / Schaltzentrale der Ohnmacht.

Staatsakt: Charles III. formally known as Prinz Charles besucht den Wochenmarkt am Wittenbergplatz (Handyfoto) © Kai von Kröcher, 2023

 

Die großen Entfernungen machen uns traurig und bitter, und dann ist es auch schon wieder Zeit zu gehen. +++ Alles fing an mit einem Allgäuer Spätzle-Rezept, das mein Sohn Otto und ich aus unserem Alpenurlaub bei meiner Nichte mitgebracht hatten und jetzt endlich gemeinsam zu Hause nachkochten. Der Zahn hatte vorher schon Ärger gemacht, wie man so sagt – nur, dass ich mir ausgerechnet bei diesem köstlichen Essen eine elende Plombe herausbrach. Futter für meinen langersehnten Zahnarztroman, wie es scheint. +++ Das sollte nun also mein zweiter Zahnartztbesuch innerhalb weniger Wochen werden, nach immerhin 30 (in Worten: dreißig) Jahren hartnäckiger Abstinenz! Als moralischer Beistand begleitete Otto mich in die Praxis nach Schöneberg. Ein herrlicher Morgen, und wirklich panisch war ich gar nicht mal so. +++ Um die Sache hier abzukürzen: Ausgeliefert saß ich im Zahnarztstuhl, machte den Mund auf. Ich bin mir nicht sicher, ob andere sogenannte Zahnklempner ihre Kundschaft liebevoll in den Arm nehmen, das könnte eine romantische Illusion sein. „Der muss raus“, meinte er jedenfalls recht pragmatisch mit leicht sprödem Charme. ‚Unglücklicherweise‘ schlucke ich jeden Tag aber Blutgerinnungshemmer, und so musste die ganze Sache nun doch leider verschoben werden. +++ 😉  +++ Und jetzt kommt die unerwartete Wendung. +++ Ferngesteuert und gutgelaunt spazierten wir in die Lebensmittelabteilung des KaDeWe, seit etwa den Nullerjahren bin ich da nicht mehr gewesen. Besonders bestaunten wir den Red Snapper, der schien direkt aus Der Schwarm entkommen zu sein. Anschließend fuhren wir hoch ins Dachgeschoss, setzten uns an das Panoramafenster und holten im Sonnenschein unser Frühstück nach. Doch was machten die Sicherheitsbeamten draußen überall auf den Dächern? Plötzlich bog eine Polizeieskorte ein – und mittendrin ein Rolls Royce mit britischer Hoheitsflagge auf dem Dach. Der ganze Konvoi stoppte tatsächlich am Wittenbergplatz, wir konnten alles von oben beobachten. +++ Da unten in einer Frauenarztpraxis hatte ich seinerzeit das erste Ultraschallbild meines Sohnes gesehen – groß wie ein Böhnchen mit Fingerchen dran! Ob Camilla auf einmal schwanger geworden war? +++ Spaß muss sein. +++ In der Tagesschau abends sah man die Designierten dann an einem Biostand Käsehäppchen probieren. +++ „Und damit“, wie ich am Schluss eines jeden Vorlesens zu meinem Sohn gerne sage: „… ist die Geschichte zu Ende!“

 

Überschrift inspired by: Drahtzieher und Eisenbieger © Kai von Kröcher, 2023

Überschrift also inspired by: Schaltzentrale der Ohnmacht © Kai von Kröcher, 2023

Lyrics: Leichtes Spiel © Otto von Bismarck, 2022

Der Schwarm (Miniserie nach dem Roman von Frank Schätzig) © ZDF, D/F/I/JPN/AUT/SWE/CH

Charles III von England – Krönung am 6. Mai in der Westminster Abbey

Camilla, Queen Consort (* 17. Juli 1947 als Camilla Rosemary Shand in London; geschiedene Camilla Parker Bowles), Ehefrau Prinz Charles des Dritten

Lixiana (mit dem Wirkstoff Edoxaban), Arzneistoff der Klasse der Antikoagulanzien – Blutgerinnungshemmer der jüngsten Generation

Knofo / Music in Colors.

Ungültig ab: 2. April 1993 © Berliner Verkehrsbetriebe/Kai von Kröcher (Repro), 1992/93

 

Ein Tag, an dem ich mich frage, ob aus dem Jungen von damals dieser Mann werden musste, der zu früh aufwacht und überlegt, ob er sein Leben noch richtig lebt. +++ Die Monatskarte lag schon ewig im Küchenfenster herum, gestern fiel mein Blick auf das Datum. +++ Man nennt das wohl einen geschürzten Mund – heutzutage auch Duckface genannt, seinerzeit Pflicht. +++ Dazu passt gut eine Geschichte, die war mir vorletzte Nacht zufällig wieder eingefallen, als ich urplötzlich hellwach im Bett lag. +++ „Den Norbert Kröcher, den hab‘ ich gekannt – wir nannten ihn immer nur ‚Knofo‘!“ Ende ’93, ich hatte gerade meine allererste vernünftige Wohnung bezogen, hier am Kanal. Nicht mehr die alte Kaninchenbehausung aus den Betonsechzigerjahren oben im Wedding, wie auf der Monatskarte damals noch ausgepreist. Und die ersten Worte des Hausmeisters waren nicht etwa „Sie sind der Neue“ gewesen oder so andere gängige Hausmeister-Classics. Er hatte den Norbert Kröcher gekannt und bewohnte die Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss unten rechts. Über dem Briefschlitz in seiner Tür stand mit Edding geschrieben: „Hier taz!“ – mit resolutem Pfeil auf den Schlitz zeigend. Er war, Herr Schumacher, damals schon eine Spur älter, Prototyp Alt-Achtundsechziger, Catweazle-Haarschnitt. Einmal, spät in den Neunzigern, sah ich ihn hinter einem Wahl-Werbestand der Grünen zusammen mit Ströbele stehen, das erfüllte mich heimlich mit Stolz.

 

Überschrift inspired by: Norbert Erich Kröcher, Spitzname Knofo (* 14. Juli 1950 in Berlin; † 16. September 2016 ebenda), Mitglied der terroristischen ‚Bewegung 2. Juni‘

Überschrift also inspired by: Music in Colors © Stephen Duffy feat. Nigel Kennedy, 1993

Textauszug aus: Der große Sommer (Roman) © Ewald Arenz, 2021

Gabriele Kröcher-Tiedemann (* 18. Mai 1951 in Ziegendorf, Mecklenburg; † 7. Oktober 1995), dt. Terroristin aus dem Umfeld der Berliner Hasch-Rebellen, Ehefrau

Catweazle: Fernsehserie nach Romanen von Richard Carpenter © London Weekend Television, GB 1970 – 1971 (dt. Erstausstrahlung: 28. April 1974)

Hans-Christian Ströbele (* 7. Juni 1939 in Halle an der Saale; † 29. August 2022 in Berlin), dt. Rechtsanwalt und Politiker der Grünen

Eulerstraße – benannt nach dem ‚Gott der Mathematik‘, Leonhard Euler, 10555 Berlin-Wedding (Gesundbrunnen)