Deep Fuck Records / Someone told me not to cry.

Fiktives Cover: Ludmilla und Bernhardt („Interdisziplinär“) © Kai von Kröcher, 2020/2021

 

Wie soll ich dir das beschreiben, ich kann nicht tanzen, ich warte nur. +++ Die Idee mit den Covern ist sicher nicht neu. Wie eine Nacht sich im Kaufhaus einschließen lassen – die sind ja zurzeit eh alle dicht. +++ Ludmilla und Bernhardt – ein Duo aus Bregenz/Vorarlberg. Ludmilla war bis Corona längere Jahre in einer Beziehung mit Diether Nur, nicht zu verwechseln mit dem Satiriker. Bernhardt ist dabei der Nachname des Keyboarders und Drummers Lutz Bernhardt. +++ Mein Sohn schnappt jetzt neuerdings Wörter aus dem Radio auf. Vor Weihnachten sprach er plötzlich „Weihnachtsmann“ aus einer Discounter-Werbung nach und strahlte übers ganze Gesicht. Gestern sagte er, während er spielte: „Ich warte nur“ – eine Zeile von Thomas Brasch aus dem Song Geister von Masha Qrella. +++ Die Platte (oben) hätte, wenn man’s sich jetzt mal kurz überlegt: So hätte die Platte nämlich genauso gut heißen können: „Ich warte nu(h)r, Dieter“ – das wäre ein kryptischer Name gewesen, auf die Verkaufszahlen gezielt. +++ Oder „Deep Fuck“, das Cover zeigt ein Hochhausghetto, über das man in Wuhan sicherlich schmunzeln würde: Zu sehen ist die Weiße Siedlung (Neukölln) am Silvesternachmittag vergangenen Jahres – der Fotograf mit der S-Bahn ohne Ziel unterwegs zum Einkaufszentrum Berlin-Schöneweide, im Volksmund nicht zu unrecht „Schweineöde“ genannt.

 

Überschrift inspired by: Fiktive Platten © Kai von Kröcher, 2021

Überschrift also inspired by: Wake Up © Arkade Fire, 2005

Lyrics: Geister © Masha Qrella, 2020 (Text: Thomas Brasch/Suhrkamp)

Fies on Earth (pa-rum-pum-pum-pum) / die Vergeltung klingelt in Gestalt eines Amazon-Zustellers.

Melanchthongemeinde: Der evangelische Pastor, der in den Tannenbaum stieg und verschwand © Kai von Kröcher, 2019

 

Ooh wa ooh wa ooh wa ooh wa ooh. +++ »Oder, anders gefragt: Hat Ihr Großvater Feinde?« Die fiktive Vernehmung meines hervorragenden Sohns Otto durch den erdachten Ermittler einer eingebildeten Sonderkommission ›Günter Grass‹ am diesjährigen Heiligen Abend geriet unmissverständlich ins Stocken: »Wenn wir hier von meinem Va…ter reden – natürlich hat er überall Feinde, ich verstehe die Frage nicht. Suchen Sie in den Lagern der bürgerlichen Parteien und derer am äußeren rechten Rand. Dringen Sie ein in das Dickicht der Lobbyistenverbände, gehen Sie in den Schrebergarten der Höckes. Stellen Sie unserem Scheuer-Andi entlarvende Fragen, trinken Sie Wein mit der pfälzischen Weinkönigin, fahren Sie nach Gelsenkirchen und bohren Sie nach im Fall Tönnies!« +++ Was war am Heiligen Abend geschehen? +++ Okay. +++ Am Heiligen Abend hatte ich gegen Mittag mit Otto und Kinderwagen das Haus über die Hintertüre verlassen und schnell noch zum Einkauf am Kottbusser Tor hinauf- oder hinunterschieben wollen. Einkaufen am Heiligen Abend ist ein unübertroffen entspanntes Erlebnis – als Hiergebliebener darf man seinen Makel als Zugezogener über die Weihnachtstage beinahe. Hm. Um die Geschichte hier jedenfalls abzukürzen: Irgendjemand hatte uns anonym ein Päckchen geschickt – von Amazon als Geschenk eingepackt, ohne Absender. Nachmittags gingen wir in das Krippenspiel der Melanchthongemeinde am Planufer, eine schöne Kirche der Nachkriegsjahre (Foto). +++ Bleiben Sie eingeschaltet, die Geschichte nimmt nach und nach Fahrt auf! +++ Ottos Mama jedenfalls hatte festlich gekocht, danach war Bescherung. Erwachsene bekommen bei solcher Gelegenheit gern feuchte Augen, Kinder himself sind da zielorientierter. Diese Art der Geschenkeverschickung durch den Internetanbieter Amazon übrigens hatte ich bis dahin nicht gekannt, diesmal allerdings waren für Otto in dieser Form gleich zwei optisch identische Päckchen gekommen: Eines von meinem ältesten Freund, von dem war ein Gruß drin. Im zweiten Paket eine Blechtrommel, anonym, dazu nur der diabolische Satz: »Enjoy your Gift!« +++ Ich weiß: man nennt das Situationskomik, das lässt sich nicht witzig nacherzählen. +++ Wer auch immer uns das aber angetan hat, man muss doch dazusagen: Otto hat mit Hingabe begeistert auf dieser Trommel gespielt, bis wir sie ihm nach drei Minuten entgeistert entrissen… +++ Fürs neue Jahr verspreche ich Ihnen keine trübsinnigen Herbstfotos mehr – und eine Verrohung der Sprache.

 

Überschrift inspired by: Peace on Earth/Little Drummer Boy © David Bowie & Bing Crosby, 1977

Überschrift also inspired by: Die Vergeltung (Ballade) © Annette von Droste-Hülshoff, ca. 1840

Lyrics: Who Are You © The Who, 1978

Melanchthonkirche (erbaut 1954/55), Planufer 83 | 10967 Berlin

Mein Kind schlägt mich / Herbstfotografien mit dem Dieter Nuhr der Fotografie.

Selbstporträt am Fenster © Kai von Kröcher, 2019

Sonne über dem Landwehrkanal © Kai von Kröcher, 2019

Landwehrkanal im Herbst © Kai von Kröcher, 2019

Böcklerpark neulich im Regen © Kai von Kröcher, 2019

 

Found my name in the graveyard, says you’ve looked insane. +++ Mein Rechtschreibprogramm kennt Dieter Nuhr nicht. +++ Puh, gestern Abend lief erst so ein Fernsehdrama um Kindesmisshandlung im ZDF, anschließend eine Reportage dazu. Einigermaßen deprimiert saß ich im Sessel und war wenigstens froh, dass es bei uns zu Haus genau andersrum läuft: Otto nämlich neigt zu häuslicher Gewalt gegen seine Eltern, spontan schiebt er mir manchmal den gestreckten Finger durch eines der Nasenlöcher bis hoch ins Gehirn – schreie ich auf, halb wahnsinnig vor Schmerz, überschüttet er mich auch schon mit einem sadistischen Lachen. +++ Heute endlich mal wieder Herbstfotos – wenn ich also der Anton Bruckner der Fotografie bin, jetzt habe ich wieder den Faden verloren. Wenn Dieter Nuhr der Friedrich Merz des Kabaretts ist, dann wäre ich im Gegenzug gern der Dieter Nuhr der Fotografie. Leider komme ich da etwas zu spät: Der Dieter Nuhr nämlich ist selbst schon der Dieter Nuhr der Fotografie – seine Bilder hängen zum Beispiel in einer Gladbacher Bank. +++ Jedenfalls steht Otto eher auf knorrige Musik: Als wir gestern vom herbstlichen Nachmittagsspaziergang zurückkamen, befahl er am Küchentisch wieder sofort, dass ich das Radio anstelle, er ist da sehr streng. Streng – aber mit Herz! Es lief gerade ein Song, wo ich erst dachte, das sei vielleicht eine verzerrtere Ausgabe der Frau von Lance Armstrong. +++ Das war das einzige Mal übrigens in dem Jahr damals, dass ich mir leidenschaftlich immer die Tour de France angesehen habe. Ich hasse das eigentlich, nachmittags vorm Fernseher zu sitzen und mir irgendeinen Sportmist anzugucken, aber dieses legendäre Duell mit Jan „Ulle“ Ullrich gegen Lance Armstrong – wo Lance Armstrong irgendwo bei so ’ner Bergetappe kurz vor Schluß bei irgendeinem Idioten am Straßenrand mit dem Lenker in der Einkaufstasche hängen bleibt und sich voll auf die Klappe legt mit blutenden Knien. Und Ulle, der alte Drogist, der bis dahin geführt hat – Ulle hält an und wartet auf Armstrong, und Armstrong streckt ihm humorlos die Zunge raus und zieht schnurstracks an ihm vorbei und gewinnt die Tour zum einundachtzigsten Mal. +++ Im Radio jedenfalls, da musste ich nachsehen: Das war der Song einer jungen Frau namens Pip Blom, Otto geriet förmlich außer Rand und Band – The Shed hieß der, der ist wirklich nicht schlecht…

 

Überschrift inspired by: Stumme Schreie (Fernsehdrama) © Johannes Fabrick (Regie)/ZDF, D 2019

Überschrift also inspired by: Dieter Nuhr (*1960 in Wesel), Kabarettist und Komiker

Lyrics: The Shed © Pip Blom, 2018

Anton Bruckner (*1824 in Ansfelden/Oberösterreich; † 1896 in Wien), österreichischer Komponist der Romantik

Friedrich Merz (*1955 in Brilon), dt Lobbyist

Lance Armstrong (*1971 in Plano/Texas), Ehemann von Sheryl Crow

Jan Ullrich (*1973 in Rostock), dt. Radrennfahrer