Research & Destroy / Da war so viel los.

Das individuelle Weihnachtsgeschenk: Warum in diesem Jahr nicht einmal Annika Breker? © Kai von Kröcher, 2013/2022

 

Meiner Mutter Hermine missfielen die Onkel-Doktor-Spiele und meine Schwäche für Whisky pur. +++ Früher, das habe ich oft erzählt: Früher habe ich Musik gemacht. War Sänger einer Band. Damals in Teilen der Welt recht erfolgreich, aber das spielt jetzt hier keine Rolle. +++ Und Musik, wenn ich das morgens so kurz nach sieben (der Sohn lacht gerade im Schlaf), wenn ich das morgens so früh schon korrekt analysieren kann: Musik kommt, so habe ich es zumindest immer verstanden. Musik kommt zunächst einmal intuitiv aus dem Bauch. Eine meiner absoluten Lieblingssinfonien, auch das habe ich schon tausendmal – nein, vermutlich habe ich das hier noch gar nicht so oft. Mein geschätzter Deutschleistungskurslehrer jedenfalls, Herr Kolkmeyer, sagte sinngemäß damals: hätte Bruckner das auch in Worten ausdrücken können, was er hat sagen wollen, dann hätte er keine Musik machen müssen. +++ Oder so ähnlich, etwas ausgefeilter vielleicht. Bruckner scheint intellektuell ein wohl eher einfach gestrickter Zeitgenosse gewesen zu sein – und in diesem Zusammenhang im Prinzip jetzt hier meine Blockade. +++ Kunst, so bilde ich mir zumindest ein zu verstehen, besteht zur Hälfte mindestens aus Gefasel. Erst kommt die schöpferische Arbeit, dann das Gefasel: In Ausstellungstexten ist der Künstler grundsätzlich immer irgendetwas am Untersuchen. Im besten und einfachsten Fall untersucht er gesellschaftliche Zusammenhänge, ungeschriebene Gesetze, Rituale. Oder was weiß ich: den Menschen an sich, seine Abgründe. +++ Okay, und an diesem Punkt meine Blockade: Ich will eben einfach nur meinen Scheiß machen – wenn der jemanden interessiert, ist es gut. Wenn er niemanden interessiert, ist es auch gut. Oder auch nicht. Eigentlich doch eher nicht. Aber zumindest will ich am Ende nicht darüber herumfaseln müssen. +++ Was ich als disziplinierter Preuße heute übrigens wirklich tun muss: Heute vormittag werde ich – und jetzt schauen Sie mal aus dem Fenster, wir schreiben Mitte November, es ist noch knapp unter fünf Grad und es regnet. Und bald werde ich mit meinem Sohn zu einem Fußballturnier am Gesundbrunnen oben im Wedding aufbrechen, wo er mit seiner Mannschaft gegen andere Kids antritt und ich ein paar Stunden draußen an einem nasskalten Sportplatz herumstehen werde. Und darauf freue ich mich, ganz ohne Quatsch. +++ Sollten Sie also an einem der Bilder interessiert sein, melden Sie sich einfach ganz unverbindlich. In meiner Serie (Fiktives Vinyl/Anm.d.Red.) setze ich mich mit den Vermarktungsmechanismen der Musikindustrie auseinander und untersuche den Einfluss der Medien auf unseren Alltag – tief im Innern aber will ich eigentlich nur meine Ruhe: meine Ruhe, rumhuren und saufen.

 

Überschrift inspired by: Search and Destroy © Iggy and the Stooges, 1973

Überschrift also inspired by/Lyrics: Da war so viel los © Udo Lindenberg und das Panikorchester, 1975

Sinfonie Nr. 9 in d-Moll © Anton Bruckner, 1887 – 1896

November Rain © Guns & Roses, 1992

Kontakt: vonkrocher@gmx.net

Mehr fiktives Vinyl finden Sie hier: https://kaivonkroecher.de/startseite/fotografie/portfolio-fake-records-fiktives-vinyl

Knofo / Music in Colors.

Ungültig ab: 2. April 1993 © Berliner Verkehrsbetriebe/Kai von Kröcher (Repro), 1992/93

 

Ein Tag, an dem ich mich frage, ob aus dem Jungen von damals dieser Mann werden musste, der zu früh aufwacht und überlegt, ob er sein Leben noch richtig lebt. +++ Die Monatskarte lag schon ewig im Küchenfenster herum, gestern fiel mein Blick auf das Datum. +++ Man nennt das wohl einen geschürzten Mund – heutzutage auch Duckface genannt, seinerzeit Pflicht. +++ Dazu passt gut eine Geschichte, die war mir vorletzte Nacht zufällig wieder eingefallen, als ich urplötzlich hellwach im Bett lag. +++ „Den Norbert Kröcher, den hab‘ ich gekannt – wir nannten ihn immer nur ‚Knofo‘!“ Ende ’93, ich hatte gerade meine allererste vernünftige Wohnung bezogen, hier am Kanal. Nicht mehr die alte Kaninchenbehausung aus den Betonsechzigerjahren oben im Wedding, wie auf der Monatskarte damals noch ausgepreist. Und die ersten Worte des Hausmeisters waren nicht etwa „Sie sind der Neue“ gewesen oder so andere gängige Hausmeister-Classics. Er hatte den Norbert Kröcher gekannt und bewohnte die Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss unten rechts. Über dem Briefschlitz in seiner Tür stand mit Edding geschrieben: „Hier taz!“ – mit resolutem Pfeil auf den Schlitz zeigend. Er war, Herr Schumacher, damals schon eine Spur älter, Prototyp Alt-Achtundsechziger, Catweazle-Haarschnitt. Einmal, spät in den Neunzigern, sah ich ihn hinter einem Wahl-Werbestand der Grünen zusammen mit Ströbele stehen, das erfüllte mich heimlich mit Stolz.

 

Überschrift inspired by: Norbert Erich Kröcher, Spitzname Knofo (* 14. Juli 1950 in Berlin; † 16. September 2016 ebenda), Mitglied der terroristischen ‚Bewegung 2. Juni‘

Überschrift also inspired by: Music in Colors © Stephen Duffy feat. Nigel Kennedy, 1993

Textauszug aus: Der große Sommer (Roman) © Ewald Arenz, 2021

Gabriele Kröcher-Tiedemann (* 18. Mai 1951 in Ziegendorf, Mecklenburg; † 7. Oktober 1995), dt. Terroristin aus dem Umfeld der Berliner Hasch-Rebellen, Ehefrau

Catweazle: Fernsehserie nach Romanen von Richard Carpenter © London Weekend Television, GB 1970 – 1971 (dt. Erstausstrahlung: 28. April 1974)

Hans-Christian Ströbele (* 7. Juni 1939 in Halle an der Saale; † 29. August 2022 in Berlin), dt. Rechtsanwalt und Politiker der Grünen

Eulerstraße – benannt nach dem ‚Gott der Mathematik‘, Leonhard Euler, 10555 Berlin-Wedding (Gesundbrunnen)

Partielle Finsternis / Smash.

Fiktives Vinyl: Gerrit Kadyrow – Ihr immer mit eurem Sex © Kai von Kröcher, 2008/2022

 

Standing in the door of the Pink Flamingo, crying in the rain. +++ Das war ja schon irgendwie komisch: Den „alten“ Gesundbrunnen, wenn man das überhaupt so sagen darf. Der alte Gesundbrunnen, so wie ich ihn gekannt und geliebt habe – das waren ja auch nur Behelfsbauten der Nachkriegszeit. Eine chemische Reinigung hat es gegeben, wenn ich mich recht erinnere. Ich glaube, auch einen „Chinesen“ – und die Musik-Kneipe White Wedding natürlich! Vor Augen habe ich auch einen Schrauber, der mit dutzenden alten DS handelte – der Göttin! +++ Der noch einmal ältere Gesundbrunnen, wie Otto Nagel ihn vielleicht noch gezeichnet hat, der noch verschwundenere Gesundbrunnen – alles längst gar nicht mehr wahr. +++ Die partielle Sonnenfinsternis gestern empfand ich als Eingriff in meine Persönlichkeitsrechte, ich habe nicht daran teilgenommen. +++ Und erst der Bahnhof Gesundbrunnen selbst – ein verwunschener Traum! Der hatte ja zwei oder drei uralte Bahnsteige, von denen wurde nur noch der eine genutzt, wegen der Mauer. Alles andere überwuchert, dazu die alte S-Bahn. +++ An dieser Stelle möchte ich an meine beiden Petitionen erinnern: „Baureihe 483/484 FUCK OFF!“ – und nicht zu vergessen die Petition, eine Tötung Bolsonaros als Möglichkeit in Betracht zu ziehen. +++ Okay – der neue Bahnhof Gesundbrunnen ein beschissener Klotz, das Gesundbrunnen-Center eine architektonische Ohrfeige. Über die Leute da mag man nichts sagen, als erstes streunte einer mit Ramsan-Kadyrow-Bart umher, im Vergleich zu dem tschetschenischen Original aber weitaus weniger freundlich-gemütlich. Und dann stand mir halt tatsächlich der Anton Hofreiter gegenüber. Vom Typ her meinem Lieblingsdeutschlehrer in seinen Cordhosen damals verblüffend ähnlich – und ich dachte, der Hofreiter wird das kaum sein, eher ein Doppelgänger. Deshalb habe ich den nicht angeschaut, weil den das natürlich nervt. +++ Das Jugendwort des Jahres übrigens, Sie haben es gestern gehört: das Jugendwort ist in diesem Jahr „Smash“ – eine Nachrichtensprecherin im Radio erklärte das in etwa mit „Sexhaben“.

 

Überschrift inspired by: Partielle Sonnenfinsternis – gestern Mittag über der BRD

Überschrift also inspired by: Smash – Jugendwort des Jahres 2022

Lyrics: Say Hello, Wave Goodbye © Soft Cell, 1981

Otto Nagel (* 27. September 1894 in Berlin-Wedding; † 12. Juli 1967 in Berlin-Biesdorf), deutscher Maler – seit 1970 postum Ehrenbürger von Berlin

White Wedding © Billy Idol, 1982

Citroën DS: Modellreihe der frz. Automobilmarke Citroën, gebaut vom 4. Oktober 1955 bis zum 24. April 1975

Anton Gerhard „Toni“ Hofreiter (* 2. Februar 1970 in München), deutscher Politiker und Biologe

Ramsan Achmatowitsch Kadyrow (* 5. Oktober 1976 in Zentoroi, Tschetscheno-Inguschische ASSR), russischer Politiker und Präsident der Teilrepublik Tschetschenien