Fiktive Postkarten, anonyme Kuverts / If you love somebody set them free.

Fiktive Postkarten: Berlin – Gruß aus der Schlange © Kai von Kröcher, 2024

 

If I had a box just for wishes and dreams that had never come true. +++ Vielleicht hätte ich gern mal eine Wohnung in der Schlange. Ein bisschen wie das Kraft-durch-Freude-Seebad Prora auf Rügen. Lässt sich zumindest echt schwer fotografieren. Im Hauptgebäude allein gibt es wohl 1064 Wohnungen – ob man da dann für alle auch die Pakete annehmen muss? +++ „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ (Kurt Hager, 1987) +++ Letzte Woche hatte ich Montag endlich mal wieder einen Zahnarzttermin. Nachdem ich dem Schlächter vom Bülowbogen leider etwas sehr spät aus den, wie sagt man, Fängen entwichen war. Jedenfalls habe ich jetzt eine Zahnärztin gefunden, die mich nicht anschreit. Die praktiziert mittlerweile ungefähr dort, wo nach der Wende am Kollwitzplatz das Café Westphal war. +++ Okay. +++ Auf dem Weg dorthin fiel mir ein Schwarzweiß-Foto ein, das bei meinem Freund F. an der Wand in der Uckermark hängt: In den Achtzigerjahren hatte der Fotograf Christian Thiel die Fassade einer profanen HO-Trinkgaststätte am Wasserturm eingefroren, heute ein prosaisches Thai-Restaurant, zwischen Pasternak und Hausbar gelegen. Ich also machte spontan einen Bogen, fotografierte das Bild aus etwa der gleichen Perspektive mit dem Handy nach. Dann ging ich zur Praxis. Und siehe da, Girocard formally known as EC-Karte, Krankenversichertenkarte und Personalausweis waren allesamt weg, hatten vorher im Handy gesteckt. Zurückgelaufen, nüschte, direkt die EC-Karte sperren lassen. +++ Stunden später, am Nachmittag, traf ich mich an der Ecke Ankerklause verschwörerisch mit einer jungen Frau, die hatte alles gefunden. Vorm Pasternak, wo sie arbeitet. Nicht einmal einen Finderlohn wollte sie annehmen – das Karma gebe ihr das irgendwann einmal auf anderem Wege zurück. +++ Am Samstag holte ich meinen Sohn von einem Kindergeburtstag in Friedrichshain ab. Auf dem Weg zurück bekamen wir eine Nachricht von seiner Mutter, sie habe im Prinzenbad ihr Portemonnaie verloren. Es sei aber tatsächlich gefunden und abgegeben worden, und ob ich es mit Otto vielleicht abholen könne. Sie würde mir eine Vollmacht schicken. Ich schrieb zurück, was ich in so einem Fall immer zurückschreibe: „Ich bin ja kein Schwein!“ +++ Aber natürlich wäre die Geschichte unbefriedigend, hätte ich ihr kurz darauf nicht auch dieses hier noch geschrieben: „Scheiße, jetzt habe ich schon wieder meine ganzen Karten verloren, ich kann mich nicht einmal mehr ausweisen!“ +++ Und natürlich wäre die Geschichte noch immer keine gute Geschichte, hätte der Briefträger mir gestern keinen anonymen Umschlag mit der Schrift einer älteren Frau durch den Türschlitz gesteckt …

 

Überschrift inspired by: Fiktive Postkarten (Fotoserie) © Kai von Kröcher, seit 2021

Überschrift also inspired by: If You Love Somebody Set Them Free © Sting, 1985

Lyrics: Time in a Bottle © Jim Croce, 1972

Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße (umgangssprachlich Schlange), West-Berliner Wohnkomplex der 70er Jahre mit weltweitem Alleinstellungsmerkmal

Kurt Hager (* 24. Juli 1912 in Bietigheim; † 18. September 1998 in Berlin), dt. Politiker der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands

Born in the G.D.R. © Sandow, 1988

Le pont maléfique / Das Verschwinden der Leere.

Oktapolare Fotografie: Bösebrücke mit Sohn © Kai von Kröcher, 2025 (Rohfassung)

 

Mummy come back ´cause the water’s all gone. +++ Könnte durchaus passieren – wenn man aus Trotz weiterhin immer nur auf die falschen Leute hört. +++ Aber da ich auch in diesem Jahr wieder glaubte, am 8. Mai sei Muttertag. Und mich wie jedes Jahr wunderte, wie, gegen jegliches Gesetz der Natür, dieser 8. Mai tatsächlich immer genau auf einen Sonntag fallen kann. Obwohl heute zwar Feiertag, doch gleichzeitig aber nur Donnerstag ist. Und warum wir diesen Muttertag dazu immer ausgerechnet noch am Tag der Kapitulation von Karlshorst damals feiern. Von daher lassen wir das heute mit dem Wasser und der Klugscheißerei, beides erscheint müßig und anstrengend. +++ Jedenfalls hatte ich gestern gerade das Bild oben (vorläufig) fertiggestellt. Ein Bild, das ich Anfang April fotografiert habe und seitdem, mit kürzeren Unterbrechungen und längeren Verzweiflungsschüben, stetig daran gearbeitet hatte. Das meinen Sohn unter der Bösebrücke zeigt, fälschlicherweise gerne Bornholmer Brücke genannt. +++ Nach Michael Bornholm übrigens, der das Lied seinerzeit sang: Dänen lügen nicht. +++ (Wer sich erinnert, dürfte heute so zwischen sechzig und zweiundachtzig sein.) +++ Das Bild jedenfalls, dachte ich gestern bei mir ganz im Stillen, möchte ich Ottos Mutter zum Muttertag widmen. Weil es ja ihren Sohn zeigt, und sie das Bild noch nicht kennt. Und vermutlich auch nicht die Brücke von unten. +++ Und wenn ich mich recht erinnere, war der Grenzübergang Bornholmer Straße am 9. November damals der erste, der den Schlagbaum für Berliner aus dem Ostteil der Stadt Richtung Westen öffnete. Nach meiner Kenntnis sofort und unverzüglich. Und obwohl ich nur etwa dreihundert Meter entfernt auf West-Berliner Seite in der Eulerstraße im Wedding wohnte, hatte ich mich erst am folgenden Morgen um halb acht von dem historischen Schauspiel überzeugen können – da ich ausgerechnet in dieser, wie gesagt, historischen Donnerstagnacht hatte Nachtschicht schieben müssen an einer prosaischen Aral-Tankstelle nahe des Schlosses Charlottenburg. Ich weiß noch, mindestens einem Trabi- oder Wartburgfahrer habe ich damals in freudiger Anerkennung und voller geschichtlicher Ergriffenheit auf das Dach geklopft und dazu einige Hände geschüttelt. +++ Ein weiterer Grund, weshalb ich schon heute und nicht erst am Sonntag zum Muttertag poste: Ich möchte auf eine Ausstellung hinweisen, die morgen in der Inselstraße 7 eröffnet wird, und an der die französische Hälfte des deutsch-französischen Elektro-Pop-Duos Interhotel beteiligt ist. Cécile Dupaquier nämlich, und die Ausstellung heißt The Disappearance of Emptiness. Direkt am U-Bahnhof Märkisches Museum in der, wie gesagt, Inselstraße 7 – Beginn ist um 19:00 Uhr. +++ I want to be a machine: Erinnert mein Sohn Sie auf eine Art nicht an den jungen John Foxx? +++ Und weil ich ja gerne ein sentimentaler Mensch bin, möchte ich das Bild oben unbedingt auch meiner eigenen Mutter widmen, die sich zweifellos irrsinnig gefreut hätte, ihren Enkel kennenlernen zu dürfen.

 

Überschrift inspired by: Bösebrücke – 1916 als Hindenburgbrücke eröffnet, erhielt ihren heutigen Namen 1948 nach dem kommunistischen Widerstandskämpfer Wilhelm Böse und verbindet Wedding und Prenzlauer Berg

Überschrift also inspired by: The Disappearance of Emptiness | zwischen nichts und unberührt viel | Gruppenausstellung | Inselstraße 7 | 10179 Berlin

The Disappearance of Emptiness | Die Möglichkeit einer Insel – avec Cécile Dupaquier | Eröffnung: Freitag, 09.05.2025, 19:00 Uhr

Lyrics: Glass Spider © David Bowie, 1987

Karlshorst © Sind, 2020

Michael Holm (* 29. Juli 1943 in Stettin, Pommern als bürgerlich Lothar Bernhard Walter), dt. Schlagersänger, Komponist, Musikproduzent 

Tränen lügen nicht © Michael Holm, 1974 (dt. Version des italienischen Intrumentals Soleado

Dänen lügen nicht © Otto Waalkes, 1976

Günter Schabowski (* 4. Januar 1929 in Anklam; † 1. November 2015 in Berlin), dt. Journalist und Politiker, Chefredakteur des Zentralorgans der SED Neues Deutschland, ab 6. November 1989 Sekretär des ZK der SED für Informationswesen 

I Want to Be a Machine © Ultravox, 1977