Schwermütige Wasser / Der Sonne ist es egal, ob wir Grünkernbratlinge essen.

Fiktives Vinyl | Alois Weidel – Stille Wasser © Kai von Kröcher, 2014/2022

 

Should I give up or should I just keep chasin‘ pavements even if it leads nowhere. +++ Das war ja gar nicht die Alice, das mit der Sonne, das war ja die Storch – Beatrix von Storch: Eines meiner weltliebsten Zitate, das mit den Bratlingen, eine wunderbare Person! +++ Haha, manche Leute haben natürlich ganz andere Sorgen, als sich über Klimazusammenhänge Gedanken machen zu können. Da haben sich einige Geschichtchen angesammelt in den vergangenen Monaten. Eine davon fand ich damals so super, ich habe sie noch niemandem erzählt. +++ Angespornt durch meinen Schrittzähler, es könnte in etwa so Mitte Juni gewesen sein. Jedenfalls, es ging gegen Abend, die Schatten wurden schon länger, das Licht färbte sich golden. Ich kam zu Fuß vom Alexanderplatz, Berlin-Alexanderplatz. +++ Ich will jetzt nicht jeden einzelnen Schritt beschreiben, es waren zehntausende, doch zog es mich langsam die Karl-Marx-Allee entlang Richtung Osten. Ich kam gerade am Strausberger Platz an, vor dem linken der zwei stalinistischen Torhäuser gen Westen. An einer Parkbank tauchte ein kleiner Typ auf. Hatte ein blauweiß gestreiftes Fußballtrikot an, aber nicht Hertha – Motor Jänschwalde vielleicht. +++ Kurze Unterbrechung. +++ Der kleine Typ hätte mich nicht weiter interessiert, wäre er mir nicht wie eine Art Springteufel aufgeregt fuchtelnd ins Bild gestolpert. Er warf sich gerade eine Tasche über die Schulter, war dabei, loszurennen – und rief begeistert etwas von einem Ständer. Verstehen Sie? Den Anfang hatte ich nicht mitbekommen, aber jetzt wurde ich aufmerksam. Ein Wortfetzen: „… ’n Ständer!“ – er hatte zum Himmel gezeigt oder zu den oberen Stockwerken: „Los, hoch – ficken!“ +++ Diesen Ausdruck hatten wir neulich hier schon. +++ Erst jetzt fiel mir die wankende Frau auf, die langsam sich aufrappelte. Noch einen Schluck aus dem Flachmann nahm und ihm schwerfällig hinterher trottete. +++ Okay. +++ Vielleicht doch eher wieder Situationskomik, jedenfalls wollte ich die Angelegenheit etwas genauer unter die Lupe nehmen. Ich folgte den beiden unauffällig, was nicht sehr schwierig war – waren sie doch extrem mit sich selbst beschäftigt, brüllten sich an, schlugen sich. Verloren das eigentliche Ziel aber nicht aus den Augen, das musste man ihnen anrechnen. +++ Um das hier jetzt abzukürzen, wo die Geschichte doch nicht so witzig ist wie gedacht: Der Typ wohnte anscheinend gar nicht mal so in der Nähe, und ich fragte mich, ob er das mit dem Ständer über die Zeit retten würde. Ecke Friedenstraße, kurz vor der Grenze zu Polen, kleiner Scherz. Ecke Friedenstraße ließ ich sie ziehen und ging meiner eigenen Wege. Ich stellte mir seine Bude vor, ein ungelüftetes dunkles Loch mit überquillendem Ascher. Vielleicht aber alles ganz anders. Ich kam dann noch an einer Kirche vorbei, die mir vorher nie aufgefallen war.

 

Überschrift inspired by: Septemberwind (Les Champs-Élysées) © Joe Dassin, 1975

Überschrift also inspired by: Beatrix von Storch (* 21. Mai 1971 in Lübeck), dt. Politikerin

Lyrics: Chasing Pavements © Adele, 2008

The Glass Fronts of Love-Me Avenue / Nothing Else Matters.

Die Zukunft des Städtebaus: Greta Kurita am Autobahndreieck Funkturm © Kai von Kröcher, 2021 (Oktapolaris, Ausschnitt)

The Whole of the Moon: Greta Kurita, südöstlich der Messe Berlin © Kai von Kröcher, 2021 (Oktapolaris)

 

You’ve been locked in here forever and you just can’t say goodbye. +++ Je mehr die zufällige Begegnung vom Sonntag (Ihr seid solche Fucker berichtete) sich von mir entfernte, desto mehr verwandelte dieser angenehme Mensch aus Unterfranken vor meinem geistigen Auge sich langsam in James Hetfield. Ich musste James Hetfield dann erst einmal googeln, bevor ich überrascht feststellen durfte: es war tatsächlich James Hetfield gewesen, der sich am Bahnhof Jannowitzbrücke von mir hatte ablichten lassen, das fand ich doch relativ schicksalhaft. +++ Man bräuchte schon eine Art Wandfries wie am Hause des Lehrers, das ist vielleicht das Problem der oktapolaren Fotografie (oben). Die Bilder schreien nach monumentalen Abmessungen, sonst kann man darin kaum etwas erkennen. Geht es im Leben schließlich nicht auch ums Erkennen? Als Beispiel habe ich Ihnen heute mal den Ausschnitt aus einem Bild der kompletten Komposition gegenübergestellt, da hat man das ganze Dilemma. +++ Ich hatte mich mittags mit Greta Kurita am Westkreuz getroffen, das ist jetzt länger als einen Monat her. Die Bilder brauchen halt immer so ewig, ein heilloses Gefummel. Es war einer dieser heißen Klimawandeltage, an denen man unweigerlich an Beatrix von Storch denkt: ihr kluges Vermächtnis, der Sonne sei es egal, ob wir Grünkernbratlinge essen. +++ Greta Kurita ist Studentin der Kunst, wir kennen uns seit mehr als ziemlich genau siebenundzwanzigeinhalb Jahren; die dystopische Location am Westkreuz hatte ich zufällig entdeckt – unter der Autobahn lebte ein halbes Dorf Obdachloser.

 

Überschrift inspired by: Future Legend © David Bowie, 1974

Überschrift also inspired by: Nothing Else Matters © Metallica, 1991

Bildunterschrift u.a. inspired by: The Whole of the Moon © The Waterboys, 1985

Lyrics: Apocalypse © Cigarettes After Sex, 2017

Beatrix Amelie Ehrengard Eilika von Storch (* 27. Mai 1971 in Lübeck), dt. Politikerin