Jaws / Auf den Schwingen des Todes.

Memory of a Free Festival (signiert) © Otto Glunz, 2023

 

I’m just a gift to the women of this world. +++ Heißen hätte es gestern müssen: Drüben in Amiland, wie ich gerne zu sagen pflege. Drüben in Amiland wird Midazolam zur Vollstreckung der Todesstrafe gespritzt, nicht etwa einfach nur begleitend zur Beruhigung der Nerven – man injiziert es als das totbringende Gift himself. +++ Verstehen Sie? +++ Wie gesagt, hatten wir uns über das Internet kennengelernt. Dieses Momentum des unbestreitbaren Leidensdrucks hatte ich nutzen wollen, eine Entscheidung treffen zu müssen wie ein Mann – den roten Atomknopf drücken, es gibt kein Zurück. +++ Zeitgleich mit der – wie nennt man das in der Arztpraxis: die Frau, die da sitzt, wo man sich anmeldet? Mit der zusammen kam ich früh morgens vor der Praxistür an. Und einer Arzthelferin, pünktlich wie der sprichwörtliche Maurer. Viel später erst traf der Zahnarzt ein, er legte der Empfangsfrau wortlos etwas auf ihren Tresen. Eine Tüte mit Äpfeln? Beim FC Bayern würde man sagen, er habe „die Kabine verloren“. +++ Meiner Meinung nach jedenfalls hatte Wolodomyr, der Zahnarzt, der an Pál Dárdai erinnerte, im Vergleich „zu dem Ungarn“ allerdings kein Freund freundlicher Worte zu sein schien. Rein vom Feeling her hatte Wolodomyr den Empfangstresen verloren: Die quirlige Frau mit der Frisur vorn an der Anmeldung ließ ihren Chef spüren, wer hier der Chef war. Ich saß hinten im Zahnarztstuhl und wartete auf meine orale Dosis Midazolam, sie drehte vorne den Radiosender 94,3 rs2 auf. Ein gutgelaunter Moderator, der alle duzte, wollte von seinen Hörerinnen wissen, wie viele Paar Schuhe sie zu Hause im Schrank haben. Eine Frau aus Marxwalde rief an, die besaß nur ein einziges Paar. Und fand es super, nicht noch mehr Schuhe zu haben – der Moderator fand das crazy. Stoisch wartete ich auf mein Midazolam, in Insider-Kreisen „Egal-Pille“ genannt…

 

Überschrift inspired by: Der Weiße Hai (Jaws, Thriller) © Steven Spielberg, USA 1975

Überschrift also inspired by: Auf den Schwingen des Todes (A Prayer for the Dying, mit Mickey Rourke) © Mike Hodges (Regie), USA 1987

Bildunterschrift inspired by: Memory of a Free Festival © David Bowie, 1969

Lyrics: A Gift © Lou Reed, 1976

Midazolam: Arzneistoff aus der Gruppe der kurzwirksamen Benzodiazepine mit angstlösender und entspannender Wirkung

Es gibt kein Zurück © Thimo Sander, 2019

Pál Dárdai (* 16. März 1976 in Pécs), ungarischer Fußballspieler, seit vergangener Woche zum dritten Mal Trainer von Hertha BSC

94,3 rs2: Berliner Privatsender, 1992 hervorgegangen aus dem West-Berliner RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor)

Neuhardenberg (bis 1814 Quilitz, 1949–1990 Marxwalde), Gemeinde im Landkreis Märkisch-Oderland / Brandenburg

Den Stier bei der Wurzel gepackt / Was Sie immer schon über Midazolam – aber auch heute hier wieder nicht …

„Und, was fotografieren Sie so – schöne Häuser?!“ (Estrel, Berlin-Neukölln) © Kai von Kröcher, 2023

 

Alles fing an mit der Gitarre meines Vaters und Sarah, der keuschen, afrodeutschen Aphrodite, die ich liebte damals. +++ Genau genommen fing alles an mit einer Kugel Eis: Mein Sohn hatte mich in die Marheineke-Markthalle gelotst, das war vorletzte Woche, wir saßen auf einem ausrangierten Ledersofa beim leerstehenden Italiener im ersten Stock. Otto schleckte an dunkler Schokolade, ich hatte mich hipsteresque für gesalzenes Caramel entschieden. Als plötzlich ein blitzartiger Schmerz in der Zahnwurzel einschlug und mir augenblicklich Teilbereiche des mittleren Vorderhirns schockfrostete. +++ Ich kann mich, das muss so Ende der Sechzigerjahre gewesen sein. Da kann ich mich jedenfalls dran erinnern, ich war unangenehm zerfressen von Neid auf meinen innigsten Sandkastenfreund. Der kam mit seinen Eltern damals vom Zahnarzt, und der wiederum hatte gebohrt. Etwas derart unerhört Cooles hatte er bei mir bis dahin noch nicht gemacht. +++ Das sollte sich allerdings alsbald ändern – die frühen Siebzigerjahre, das nämlich waren nicht nur verklärte Pril-Blumen und Brauner Bär. Haben Sie auch gelesen, Wrigley’s Spearmint Gum stellt seine Produktion in Deutschland ein? Die Siebziger jedenfalls, die waren für mich auch der Zahnarzt in unserem Nachbardorf. Ich habe den immer so als Peter-Frankenfeld-Typ in schlechter Erinnerung, aber eingebrannt haben sich wohl eher der Praxisgeruch, wenn man hereinkam, das Kreischen der Bohrer aus dem Behandlungsraum. +++ Termine und/oder Gefangene wurden hier nicht gemacht, und so saß man durchschnittlich dann vom Feeling her zwei bis drei Stunden mit zwei Dutzend anderen und starrte auf den gerahmten Kalenderspruch an der Wand: „Schenke Blumen während des Lebens, denn auf den Gräbern sind sie vergebens / Ein bisschen mehr ‚wir‘ und weniger ‚ich‘, ein bisschen mehr Mut – nicht so zimperlich“. Das las man sich paralysiert dann so vierhundert Mal durch und hoffte derweil auf einen Meteoriteneinschlag im Transformatorenhaus. +++ Es gab hier ein unumstößliches Gesetz: Gebohrt wurde grundsätzlich ohne Betäubung – Spritzen nur bei den Erwachsenen, wenn zweite Zähne gezogen wurden. +++ Als ich ins Jugendlichen-Alter kam, musste ich immer allein mit dem Fahrrad die zwei Kilometer Steigung – wir brechen an dieser Stelle für heute hier ab, das dauert mir alles zu lange. +++ Wie schätzen Sie die Chancen am Markt für einen juvenilen Zahnarztphobie-Roman ein – sollte ich den bei dem Wetter da draußen schnell noch schreiben?

 

Überschrift inspired by: Roots (Mini-Fernsehserie nach dem Roman von Alex Haley) © Marvin J. Chomsky, David Greene, John Erman, Gilbert Moses (Regie), USA 1977

Überschrift also inspired by: Dormicum (Midazolam) – Sedativum in der Anästhesie zur Prämedikation vor Operationen

Lyrics: Erste Schritte / Retrospektive © Freundeskreis, 1999

Peter Frankenfeld (* 31. Mai 1913 in Berlin-Kreuzberg; † 4. Januar 1979 in Hamburg), dt. Showmaster und Schauspieler (Entertainer)

Kalenderspruch vermutlich inspired by: Ein bisschen mehr Friede(n) des österreichischen Schriftstellers Peter Rosegger (1843 – 1918)