Den Stier bei der Wurzel gepackt / Was Sie immer schon über Midazolam – aber auch heute hier wieder nicht …

„Und, was fotografieren Sie so – schöne Häuser?!“ (Estrel, Berlin-Neukölln) © Kai von Kröcher, 2023

 

Alles fing an mit der Gitarre meines Vaters und Sarah, der keuschen, afrodeutschen Aphrodite, die ich liebte damals. +++ Genau genommen fing alles an mit einer Kugel Eis: Mein Sohn hatte mich in die Marheineke-Markthalle gelotst, das war vorletzte Woche, wir saßen auf einem ausrangierten Ledersofa beim leerstehenden Italiener im ersten Stock. Otto schleckte an dunkler Schokolade, ich hatte mich hipsteresque für gesalzenes Caramel entschieden. Als plötzlich ein blitzartiger Schmerz in der Zahnwurzel einschlug und mir augenblicklich Teilbereiche des mittleren Vorderhirns schockfrostete. +++ Ich kann mich, das muss so Ende der Sechzigerjahre gewesen sein. Da kann ich mich jedenfalls dran erinnern, ich war unangenehm zerfressen von Neid auf meinen innigsten Sandkastenfreund. Der kam mit seinen Eltern damals vom Zahnarzt, und der wiederum hatte gebohrt. Etwas derart unerhört Cooles hatte er bei mir bis dahin noch nicht gemacht. +++ Das sollte sich allerdings alsbald ändern – die frühen Siebzigerjahre, das nämlich waren nicht nur verklärte Pril-Blumen und Brauner Bär. Haben Sie auch gelesen, Wrigley’s Spearmint Gum stellt seine Produktion in Deutschland ein? Die Siebziger jedenfalls, die waren für mich auch der Zahnarzt in unserem Nachbardorf. Ich habe den immer so als Peter-Frankenfeld-Typ in schlechter Erinnerung, aber eingebrannt haben sich wohl eher der Praxisgeruch, wenn man hereinkam, das Kreischen der Bohrer aus dem Behandlungsraum. +++ Termine und/oder Gefangene wurden hier nicht gemacht, und so saß man durchschnittlich dann vom Feeling her zwei bis drei Stunden mit zwei Dutzend anderen und starrte auf den gerahmten Kalenderspruch an der Wand: „Schenke Blumen während des Lebens, denn auf den Gräbern sind sie vergebens / Ein bisschen mehr ‚wir‘ und weniger ‚ich‘, ein bisschen mehr Mut – nicht so zimperlich“. Das las man sich paralysiert dann so vierhundert Mal durch und hoffte derweil auf einen Meteoriteneinschlag im Transformatorenhaus. +++ Es gab hier ein unumstößliches Gesetz: Gebohrt wurde grundsätzlich ohne Betäubung – Spritzen nur bei den Erwachsenen, wenn zweite Zähne gezogen wurden. +++ Als ich ins Jugendlichen-Alter kam, musste ich immer allein mit dem Fahrrad die zwei Kilometer Steigung – wir brechen an dieser Stelle für heute hier ab, das dauert mir alles zu lange. +++ Wie schätzen Sie die Chancen am Markt für einen juvenilen Zahnarztphobie-Roman ein – sollte ich den bei dem Wetter da draußen schnell noch schreiben?

 

Überschrift inspired by: Roots (Mini-Fernsehserie nach dem Roman von Alex Haley) © Marvin J. Chomsky, David Greene, John Erman, Gilbert Moses (Regie), USA 1977

Überschrift also inspired by: Dormicum (Midazolam) – Sedativum in der Anästhesie zur Prämedikation vor Operationen

Lyrics: Erste Schritte / Retrospektive © Freundeskreis, 1999

Peter Frankenfeld (* 31. Mai 1913 in Berlin-Kreuzberg; † 4. Januar 1979 in Hamburg), dt. Showmaster und Schauspieler (Entertainer)

Kalenderspruch vermutlich inspired by: Ein bisschen mehr Friede(n) des österreichischen Schriftstellers Peter Rosegger (1843 – 1918)