Gattin aus Holzabfällen / Der Fänger hinter der Autobahn.

Thimo Sander, Tourposter © Kai von Kröcher (Foto)/Thimo Sander, 2019

 

… and secretaries turn off typewriters and put on their coats. +++ Die Ziehung des Großen Weihnachtshauptgewinns 2019 werde ich heute mit keiner Silbe erwähnen, ich schwöre. +++ Die Wahlbeteiligung war echt überwältigend, dafür, dass es kein echter Van Gogh war. +++ Fayzen sagte mir vorher gar nichts, aber das Tourposter von Thimo Sander ist echt schön geworden. Bei seinem Konzert neulich hier in Berlin – mir fiel da spontan eine sehr treffende Beschreibung für ein: Es gibt wohl kaum jemanden, dessen Songs. Nee, das klingt schon wieder blöd: Ich hätte Werbetexter werden sollen – dorthin werden wir gleich einen Bogen, wie sagt man? +++ Bei einem Schulpraktikum damals in Braunschweig, zehnte oder elfte Klasse. 1981 war das. Ich hatte als Wunsch angegeben, ich wolle in eine Werbeagentur oder so. Irgendwas mit Medien. Sie haben mich dann in eine Firma für Messebau gesteckt, Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Das war da hinten in einem Gewerbegebiet am Ende der Hamburger Straße, direkt neben der Autobahn. Wo es nach Veltenhof/Hafen geht, da kommen die Gurken her. Braunschweig war früher mal Gurkenweltmeister. Max Goldt sieht aus wie Max Schmeling. Mein Rechtschreibprogramm kennt Max Schmeling nicht, vielleicht ist es in Echt gar kein richtiges Rechtschreibprogramm. +++ Es war jedenfalls irgendwie kurz vor Weihnachten, hin und wieder fiel Schnee. Irgendwo fuhr immer ein Typ auf einem Gabelstapler herum. Alles schon deprimierend genug, aber eine Sache hat mich echt fertiggemacht. Das klingt jetzt gerade wie aus einem Roman, der Fänger im Roggen vielleicht: „Aber eine Sache hat mich echt fertiggemacht!“ +++ Nee, aber eine Sache hat mich wirklich echt fertiggemacht: Die Rückseite der Bude nämlich, also da war so ein Anlieferungstor für die Tischlerei. Holzgeruch überall, kalter Holzgeruch. Einmal war die Heizung ausgefallen, und als ich morgens im Dunklen durch den Schnee gestapft kam, sagten sie, sorry, heute sind hier drin nur acht Grad. Und ich so von draußen aus der Dezemberluft und denke noch so: Richtig schön kuschelig hier. Aber acht Grad sind nur acht Grad, die relativieren sich schnell. +++ Aber was mich wirklich fertiggemacht hat: Dieses Anlieferungstor für die Tischlerei, das öffnete genau Richtung Rückseite vom Braunschweiger Schlachthof, dazwischen lag nur ein kleiner Acker. Und man musste dahinten immerzu irgendwas machen, irgendwelches Holz holen und so. Und draußen die Kälte, der Acker, und morgens noch dunkel. Und dann die ganze Zeit das Geschreie der Tiere. Rinder, Schweine und Schafe, diese ganzen geschundenen Seelen. Wie sie vom Viehtransporter runtergeprügelt werden, weißgeflieste, blutige Gänge, Elektroschocker. Alles verängstigt, überall Kot und psychisch verrohte Aushilfsschlachtergesellen. Man konnte das Elend nicht sehen, nur hören. Das hat einen schon fertiggemacht. +++ Und genau dieses Bild hatte ich immer vor Augen, wenn ich vom „Schweigen der Lämmer“ irgendwo las oder hörte – bei lebendigem Leibe gehäutete Schafskinder, dann lange Zeit Stille, den Film konnte ich mir einfach nicht ansehen. +++ Mögen Sie Tiere? – Ja, schön mit Zigeunersoße. +++ Als Kind war ich tatsächlich einmal in einem Schlachthof, irgendwo in Salzgitter – „Ach, daher!“, werden Sie sagen. +++ Sagt man das eigentlich noch: ‚Zigeunersoße‘?

 

Überschrift inspired by: Gattin aus Holzabfällen © Max Goldt/Rowohlt, 2010

Überschrift also inspired by: The Catcher in the Rye (Der Fänger im Roggen, Roman) © J.D. Salinger, 1951

Lyrics: Nothing Ever Happens © Del Amitri, 1989

Maximilian Adolph Otto Siegfried Schmeling (* 1905 in Klein Luckow, Brandenburg; † 2005 in Wenzendorf, Landkreis Harburg), dt. Schwergewichtsweltmeister

Moribund the Burgermeister / Es gibt kein Zurück.

Thimo Sander – es gibt kein Zurück © Kai von Kröcher, 2019

 

At thirteen they’ll be learning and at fourteen they’ll be burnin‘. +++ Lustig nach der Demo am Freitag war ja, da schob ich mit Otto die Zimmerstraße hinunter oder hinauf. Otto hatte gerade den landenden Riesenballon Ecke Wilhelmstraße bewundert, kostet übrigens nur 25 Euro pro Großem – hätte gedacht, das wäre teurer. Der trägt ja Werbung der „Welt“ und erinnert an den platzenden Luftballon bei Charlie Chaplin. Ich sagte zu Otto: „Gleich platzt der.“ Hätte mich aber gewundert, wenn er tatsächlich genau in dem Augenblick geplatzt wäre. +++ Und ungefähr in dem Moment kam Walter Momper herangeschlendert, mein Rechtschreibprogramm streicht seinen Namen rot an. So schnell kann das gehen: Gerade noch der „berühmteste Bürgermeister der Welt“, jetzt schon vom Internet vergessen. +++ Momper ist oder war u.a auch Präsident des Berliner Abgeornetenhauses, glaube ich, eigentlich sogar ein komischer Vogel, wenn ich’s mir überlege: Vor vielen, vielen Jahren war ich mal zu der Fotoausstellung einer Bekannten aus Stuttgart dort im Abgeortnetenhaus eingeladen. Die Bilder kamen sehr gut: Prosaische Landschaften mit Windrädern, will ich jetzt nicht beschreiben. Also vielleicht keine Kunst, die The Hörn sich zu Haus über die Sitzecke hängen würde. +++ Wer war jetzt „The Hörn“ gleich nochmal, ist das ein politisch motivierter Witz? +++ Naja, und Walter Momper als Präsident des Abgeordnetenhauses damals eröffnete die Ausstellung, und dann schlurfte man in der Gruppe gemächlich durch die imposanten Hallen und Flure – und Walter beugte sich irgendwann unauffällig zu der Fotografin hinunter und momperte hörbar etwas von wegen: „Und das finden Sie schön?!“ Und dazu ein so ostentativ säuerliches Gesicht, ich dachte: ein komischer Vogel! +++ Von daher war die Begegnung mit ihm hier in der Zimmerstraße a) zwar nicht sonderlich überraschend, wo er doch ein paar Meter weiter arbeitete. Und trotzdem haben Otto und ich ihn b) erstmal eine Weile verfolgt und beobachtet, so merkwürdig fanden wir den Moment. Kennen Sie die Kommissar-Folge „Die Schrecklichen“? Die wäre jetzt schwierig zu beschreiben – ganz besondere Episode. Der berühmteste Bürgermeister der Welt jedenfalls hatte sich unbemerkt von hinten genähert, während Otto und ich dem „Welt“-Ballon beim Runterkommen zuschauten. Ich sagte: „Ey, komm mal runter“ und kicherte, und genau in dem Moment kam Momper von hinten und warf für einen Wimpernschlag der Geschichte einen Blick zu Otto in seinen Buggy. Ich sage ja gern, dem Otto fliegen die Herzen zu – sowas kann man sich nicht antrainieren. Oft, wenn wir beide unsere Runde drehen, drehen die Leute sich nach uns um und gleich sehen sie ein Stückchen weniger scheiße aus, das ist doch auch irgendwie ein schöner Beitrag zum Weltfrieden. +++ Der berühmteste Bürgermeister der Welt jedenfalls hielt für einen Atemzug der Geschichte inne, blickte in Ottos Wagen, dann schlurfte er weiter. Ich dachte, das ist doch Walter Momper, er hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die eine Hand unprätentiös mit einem roten Verband verbunden. Damals war ein roter Schal sein Markenzeichen gewesen, heute kennt mein Rechtschreibprogramm seinen Namen nicht mehr. Das Netz vergisst nichts, sagt man ja immer, aber dafür ist es zu jung. +++ Ich würde gern hier einen Anspieltipp zwischenschieben, eine Rückrufaktion von Glück, sozusagen: Vorgestern nämlich hatte Thimo Sanders Single Es gibt kein Zurück Video-Premiere – he’s a good friend of mine, it’s true. Gefällt mir sehr gut, typisch Hutschnur. Wir hatten Anfang des Jahres mal eine Fotosession für sein kommendes Album zusammen gemacht, aber er hatte schon damals gesagt, ein bisschen mehr Sommer wäre ihm lieber gewesen, leider haben wir es nie wiederholt. Es gibt halt kein Zurück, aber egal. +++ Das Video gibt es hier – es braucht vielleicht zwei, drei Plays, um sich einzubohren, dann aber richtig. +++ Äußerst schöner Song, ich bin sehr anfällig für so was. +++ Was nämlich merkwürdig an Walter Momper war, ich meine, er arbeitet doch seit mindestens zwanzig Jahren schon dort. Und dann schlendert er von einem Haus zum anderen und sieht sich bedächtig alles ganz genau an: die Trabis von der Trabi-Safari da bei dem Ballon, ganz banale Touristengeschichten. Auch vor der einen Galerie blieb er draußen stehen, hob und drehte den Kopf: Aha, mhm, hm. Dann wechselte er die Straßenseite, ging rüber zum Trabi-Museum. Vielleicht braucht er ein neues Auto, und wir immer hinterher, chasing Pavements. +++ Irgendwann ist uns mit dem berühmtesten Bürgermeister der Welt dann aber doch etwas langweilig geworden, wir sind tatsächlich den ganzen Weg von der Demo am Reichstag und Brandenburger Tor bis nach Hause zum Urbanhafen zu Fuß gegangen – am Ende taten dem jungen Papa die Beine weh.

 

Überschrift inspired by: Moribund the Burgermeister © Peter Gabriel, 1977

Überschrift also inspired by: Walter Momper (*1945 in Sulingen, Provinz Hannover), ehem. Regierender Bürgermeister von Berlin

Überschrift also inspired by: Es gibt kein Zurück © Thimo Sander, 2019

Lyrics: Teenage Rampage © The Sweet, 1974

The Great Dictator © Charlie Chaplin (Drehbuch/Regie/Produzent/Musik), USA 1940

Björn „the Hörn“ Höcke (*1972 in Lünen/Nordrhein-Westfalen), dt. Faschist

Der Kommissar – Die Schrecklichen (mit Erik Ode, Fritz Wepper u.a.) © ZDF, D 1969

Chasing Pavements © Adele, 2008

Thimo Sander – Es gibt kein Zurück (Video) © Jarek Raczek (Regie/Kamera/Schnitt), D 2019

Gelbwesten / The World is my Oyster, hahahahaha.

Thimo Sander, Auster-Club © Kai von Kröcher, 2019

Thimo Sander, Auster-Club © Kai von Kröcher, 2019

 

The curtains flew and then he appeared. +++ Thimo Sander gestern Abend gab ein geheimes Test-Konzert unter der Markthalle, auf der Bühne allein mit seiner Akustischen. +++ Auch ein ganz schöner Freudscher Verhörer gestern im Radio: der Bericht über den „Protest der Weltbesten“ auf den Champs-Élysées in Paris. +++ Heute früh am Kanal kam mir eine Gruppe nachpubertärer Mädchen entgegen, alle ganz fleißig am Nordic Walken.

 

Überschrift inspired by: Christopher Walken (*1943 in New York City)

Überschrift also inspired by: The World Is My Oyster © Frankie Goes to Hollywood, 1984

Lyrics: (Don’t Fear) The Reaper © Blue Oyster Cult, 1976

Julia Klöckner (*1972 in Bad Kreuznach)

Auster-Club | Pücklerstraße 34 | 10997 Berlin