Haircut 100 / die Verwandlung.

Herbst – the Dark Side of the Moon © Kai von Kröcher, 2019

 

Out upon the ocean waves subside. +++ Gestern ist uns vielleicht was passiert, Otto und mir – kennen Sie Kafka? +++ Beim Aufwachen heute wurde mir klar: in all den Jahren, auch früher nicht – nicht ein einziges Mal habe ich je drüber nachgedacht, was Haircut 100, also der Bandname – was der wohl für eine Bedeutung, welchen Hintergrund hat. +++ Aber fangen wir vielleicht einfach ein kleines Stück weiter vorn an: Über das Wochenende nämlich war meine Nichte zu Besuch gewesen, Ottos Cousine aus den Bergen sozusagen. Und nicht einmal nur ’sozusagen‘: Ich glaube, die haben da alles so um die Zwei- bis Dreitausender – ein hochgelegenes Kerbtal mit fünf Dörfern und ringsherum Zwei- bis Dreitausender! Ottos Cousine jedenfalls musste dann gestern wieder zur Bahn, und beim Umsteigen am Alex – ich bin ja nun wirklich nicht der Gunnar Schupelius des Internet-Blogs, aber wenn Sie im Rollstuhl sitzen oder mit dem Kinderwagen unterwegs sind: Katastrophe! Jedenfalls stehen wir da schon eine ganze Weile, und der Fahrstuhl fährt voll vorbei von oben nach unten – und dann wieder voll vorbei von unten nach oben. Und vor uns erst noch eine Reihe Mütter mit ihren Kindern, dann endlich stehen wir auf der Pole Position, sagt man das so? Um das mal abzukürzen, hier kommt jetzt ein gewisser Niko oder Nico ins Spiel. Beziehungsweise kommt er fluchend, einen leeren Puppenwagen vor sich her schiebend, mit einer Bierflasche in der Hand direkt auf uns zu geschlurft. Dann drängelt er sich zwischen uns und den Fahrstuhl. Ich bin nun wirklich nicht überheblich gegenüber Menschen, bei denen es im Moment vielleicht gerade nicht so gut läuft. Aus der Situation heraus jedoch verhielt ich mich eher undifferenziert – ich sagte : „Verpiss dich hier, du Idiot!“ +++ Okay, die Geschichte wird sich noch etwas ziehen, vielleicht spulen wir schon mal ein paar Kapitel vor. Als wir nämlich die Nichte bzw. Cousine in den Zug zurück in die Berge gesetzt hatten, da sind Otto und ich wieder zum Alexanderplatz. Otto liebt den Fernsehturm, und aus meinem Küchenfenster sehen wir nur den oberen Teil der Antenne. Ich finde das trotzdem erstaunlich mit seinen gerade mal vierzehn Monaten: Er bringt diese Antennenspitze nämlich schon mit dem kompletten Fernsehturm in Zusammenhang, und das nicht erst seit gestern. +++ Lange Rede, kurzer Sinne: Am Alex steht ja zurzeit gerade der Weihnachtsmarkt, und ohne zu übertreiben darf man mich gern den Gunnar Schupelius der Weihnachtsmärkte nennen. Zumindest, was den am Alexanderplatz angeht. Jedenfalls steht da dieses große Kinderkarussell, und ich habe erst mit Otto ein paar Runden im Kinderwagen drumherum gedreht, dann sind wir in den DM-Markt. +++ Am Alex gibt es übrigens zwei DM-Märkte, und der eine hat – aber das wusste ich seinerzeit nicht und habe mich da einmal dumm und dämlich gesucht: der eine hat nämlich keine Babynahrungsabteilung, was eher merkwürdig ist für einen Drogeriemarkt, aber egal. Auf dem Rückweg jedenfalls blieben wir wieder am Karussell stehen – und diesmal kaufte ich uns beiden ein Ticket. Die Fahrkartenverkäuferin meinte, von null bis hundert – hier dürfe ein jeder mitfahren! +++ Wow, wir haben uns in eine Kutsche gesetzt, das war super: Um uns herum Pferde aus Holz, und während wir uns drehten, sahen wir die Kugel des Fernsehturms am Himmel oben vorbeiziehen und die Trambahnen über den Platz und den Fernverkehr hinten am Bahnhof und die ganzen bescheuerten Leute und alles! +++ Und jetzt aber geht die Geschichte wieder in ihre Niederungen: Weil die Begegnung mit Niko unten am Fahrstuhl nämlich nicht so schön gewesen ist – Niko hatte angefangen, mich wüst zu beschimpfen und meinen Kindern den Tod zu wünschen, was ich schon mal für einen ganz großen Fehler hielt. Die Security-Leute, die ihn mit Namen ansprachen, was ich übrigens sehr menschlich und nett fand, die haben sich dazwischengestellt und versucht, die Sache zu deeskalieren. Und als unser Fahrstuhl dann endlich kam, gerade noch rechtzeitig, da schrie die Frau unter den Security-Leuten plötzlich auf: „Mensch, Nico – was machst du denn da?!“ Und Nico oder Niko stand ohne Quatsch neben dem nächsten Eisenstützträger mit heruntergelassenen Hosen und kackte im Stehen gemächlich einen matschigen Haufen, er hatte uns seinen Po zugedreht. Sicherlich deshalb hatte er sich beim Fahrstuhl vordrängeln wollen, das tat mir jetzt leid – Otto schlief. +++ Und nun kommt der (für Sie) lustige Teil der Geschichte: Um uns ein nochmaliges Aufeinandertreffen mit Nico zu ersparen, fuhren Otto und ich eine Station mit der S-Bahn bis Jannowitzbrücke und stiegen dort um. Auch von dort hat man einen sehr schönen Blick auf den Fernsehturm, und ich liebe die alten Fotos unten in der U-Bahnstation. +++ Bevor es gleich aber lustig werden kann, kommt erstmal kurz noch eine recht finstere Episode – wer da etwas zarter besaitet ist, der möge noch einmal vorspulen: Als wir unten aus dem Fahrstuhl stiegen, fiel mir im Augenwinkel etwas in einer Nische auf, das konnte ich erst nicht so recht einordnen. Man ist ja nun schon etwas hartgesottener geworden in all den Jahren hier unterwegs. Otto zum Beispiel haut so schnell nichts um, aber er guckte eh irgendwo anders hin. Und als ich genauer hinsah, und das musste ich ehrlich gesagt mehrmals tun. Da saß nämlich einer im Rollstuhl, dem fehlten ein oder zwei Beine. Und oben herum konnte ich nicht so recht erkennen, was das genau war, was ich da sah. Mit einer Spritze stocherte er in seinem Arm herum, bloß konnte man den Arm nicht mehr als Arm identifizieren. Da fehlte in etwa ein ganzes Pfund Fleisch, alles war offen und blutig, wie nach einem Bombenattentat. Man sah den komplett nackten Knochen. Und da bohrte er jetzt mit der Spritze drin rum auf der Suche nach einem Einstichloch, oder wie man das nennt. +++ Und dennoch wird es (für Sie) jetzt recht lustig: Mit der Frage nämlich, ob Heroin wirklich so geil ist, dass man da alles super findet und erste Sahne gut drauf ist und denkt, was für ein schöner Tag  – obwohl man unten irgendwo in der U-Bahn lebt und aussieht wie ein schlecht bezahlter Komparse aus einem Horrorfilm mit ein oder zwei fehlenden Beinen und einem Arm, der einem bei lebendigem Leibe wegfault. Mit diesen Gedanken im Kopf also stieg ich in die U8, und man muss dazusagen, es war einer der neuen Züge, die haben wohl anscheinend ein anderes Beschleunigungsverhalten als die Wagen der alten Baureihe, das war mir vorher nie aufgefallen. Ferner sollte ich noch erwähnen, dass Otto von seiner Cousine zu Weihnachten schon vorab einen sportlichen Kinderwagen geschenkt bekommen hat, der rollt wesentlich leichter als unser alter verbogener. Das alles sollte man wissen. Ich stieg also ein auf den letzten Drücker und zog aus Bequemlichkeit die Bremse am Kinderwagen nicht an. Dann wollte ich gerade sanft in die Hocke gehen, mit Otto das Kinderkarussell noch einmal Revue passieren zu lassen. Und genau in diesem Moment zog die Bahn an. Ich verlor die Balance, versuchte, mich am Kinderwagen festzuhalten – doch der ist echt leichtgängig und machte sich selbstständig! Ich also kippte in Zeitlupe nun rückwärts der Länge nach in den Gang und blieb auf dem Rücken liegen. Ich dachte, wie peinlich, und wollte schnell wieder aufstehen. Da aber hatten mich vom Feeling her schon drei Männer von hinten gepackt und wollten mir aufhelfen. Aufgeregt schrie einer: „Kommen Sie, setzen Sie sich hin!“ Ich kam mir vor wie ein alter Zausel, der einfach mal kurz in der U-Bahn umfällt. Ich wollte mich aufstützen, die Situation irgendwie retten. Ruderte mit den Händen aber in der Luft, die hielten mich ja in ihrem elenden Polizeigriff. Ich fluchte: „Jetzt lassen Sie mich endlich los!“ Dann stand ich auf und versteckte mich voller Scham hinter Otto. +++ Ob die weiße Altersmatte für Hundertjährige wirklich so frisch und kreativ rüberkommt, wie es mir bisher immer vorkam – ich muss da mal drüber nachdenken.

 

Überschrift inspired by: Fantastic Day © Haircut One Hundred, 1982

Überschrift also inspired by: Die Verwandlung (Erzählung) © Franz Kafka, 1912

Bildunterschrift inspired by: The Dark Side of the Moon © Pink Floyd, 1973

Lyrics: Silver Moon © David Sylian, 1986

Gunnar Schupelius (* 1963 in Berlin-Wilmersdorf), Kolumnist der BZ